Bruchstelle: Discogs’ Spendenaktion für Los Angeles – Der Gipfel der Scheinheiligkeit
© Shutterstock/Chris971

Bruchstelle: Discogs’ Spendenaktion für Los Angeles – Der Gipfel der Scheinheiligkeit

Features. 16. Januar 2025 | 3,8 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Am 17. Januar sammelt Discogs Spenden für Betroffene der Feuerkatastrophe in Los Angeles. Das Geld soll wohlgemerkt die Kundschaft auftreiben, der monopolistische Vinyl-Marktplatz scheint keinen Cent selbst draufzuzahlen. Höchste Zeit, die parasitären Praktiken dieser Plattform unter die Lupe zu nehmen, kommentiert Kristoffer Cornils.

Noch lodert es in Los Angeles. Einige Brandherde sind mittlerweile unter Kontrolle, in den Palisades hingegen ist kaum ein Fünftel der alles niederwalzenden Feuersbrünste eingedämmt worden. Ein Ende ist noch nicht abzusehen – eine Verschlimmerung könnte jederzeit eintreten. Es wird Monate, wenn nicht Jahre dauern, das Ausmaß der Schäden zu überblicken. Klar ist jetzt schon: Mindestens 25 Menschen haben ihr Leben gelassen, Zehntausende ihr Zuhause verloren. Weil Los Angeles eine der wichtigsten Musikstädte der USA ist, haben die Feuer auch viele kulturelle Artefakte zerstört. Originalpartituren von Arnold Schönberg, die Plattensammlung von Madlib: womöglich unwiederbringlich verloren.

Mehr noch aber betrifft all das die bloße Existenz vieler Menschen aus der Musikwelt. Die wenigsten von ihnen sind Superstars mit prall gefüllten Nummernkonten in der Schweiz, wie es das Klischee will. Ihr Haus und all ihr Hab und Gut, darunter ihr Equipment und Heimstudios: Das alles ist buchstäblich in Rauch aufgegangen. Die Anteilnahme und Solidarität ist groß, es kursieren Listen mit den Daten Betroffener und Organisationen wie MusiCares sammeln Gelder, um schnelle und unkomplizierte Hilfeleistungen zu ermöglichen. Großspenden kommen unter anderem von Beyoncé. So weit, so normal irgendwie. Unnormal scheint hingegen, wie die Plattform Discogs damit umgeht. 

Spenden soll der Benutzerstamm, nicht die Plattform

Am 13. Januar verschickte der Vinyl-Marktplatz eine E-Mail mit der Betreffzeile "We're Donating to Those Affected by the LA Fires – And You Can Help" an seinen Benutzerstamm von gut 110 Millionen Menschen. Am 17. Januar, hieß es darin, würden alle der normalerweise von Discogs erhobenen Gebühren von 9 Prozent auf den Verkaufspreis und die Versandkosten (dazu gleich mehr) an die oben genannte Organisation MusiCares gespendet. Auch das klingt erst einmal irgendwie normal, erinnert das Prinzip doch deutlich an die hinlänglich bekannten Bandcamp Fridays. Doch wie in jenem Fall entpuppt sich die Kampagne von Discogs bei genauerem Hinsehen als reines Marketing. Und die Betreffzeile der E-Mail als Unwahrheit.

Denn Discogs spendet nicht selbst, wie in der (auf dem hauseigenen Blog unverfänglicher formulierten) Überschrift suggeriert, sondern animiert lediglich sehr viele Menschen zum Spenden und leitet dieses Geld im Anschluss bloß weiter. Mit keiner Silbe wird erwähnt, ob Discogs selbst Beträge an MusiCares oder andere schickt – vermutlich, weil das nicht passieren wird. Schon die Bandcamp Fridays entpuppten sich als reine PR-Maßnahme: Statt dauerhaft die Gebühren zu senken und so nachhaltig die Konditionen zu verbessern, wurde ein regelmäßiges, publikumswirksames Spektakel geschaffen, das für viel Aufmerksamkeit sorgte und eine noch engere Bindung von Kundschaft und Kunstschaffenden an die Plattform schuf. Eine Wachstumsmaßnahme, kaschiert als Benefiz.

Discogs will dem offenbar nacheifern und dreist ist das allein deswegen, weil die im Herbst 2000 gelaunchte Plattform mit der Aktion in Form von fremdem Geld wohl zum ersten Mal überhaupt substanzielle Beträge an die Musikwelt schickt. Was aufsehenerregende Listicles wie "50 Most Expensive Vinyl Records" ihrer Leserschaft nämlich verschweigen: Wenn eine Röyksopp-Platte für über 10.000 US-Dollar verkauft wird, erhalten Svein Berge und Torbjørn Brundtland und alle anderen rechtlich an den Aufnahmen Beteiligten keinen müden Cent aus diesem Handel – es sei denn, sie haben die Platte selbst aus dem Archiv gekramt und verkauft. 

Discogs hat ein Monopol – und nutzt es aus

Freilich funktioniert Second-Hand-Handel immer so. Aber Discogs hat ebenso im Vinyl-Segment konventionellen Plattenläden und Online-Stores sowie der Großkonkurrenz von eBay den Rang ablaufen und zum Monopolisten werden können, weil es seine Nutzerbasis als kostenfreie Arbeitskräfte einsetzte. 105,7 Millionen neue Titel wurden der Datenbank im Jahr 2024 hinzugefügt, vermeldete die Plattform vor wenigen Tagen selbst – und zwar nicht von der eigenen Belegschaft während der Arbeitszeiten, sondern von Menschen, die das mit viel Leidenschaft nach Feierabend tun. Sie erst erschaffen den Wert von Discogs als Datenbank. Und stecken auch viel Geld rein.

Als Discogs im Mai 2023 ankündigte, die Gebühren anzuheben, schien das angesichts von Inflation und allgemeinen Preisexplosionen nicht überraschend. Einen Aufschrei gab es dennoch, weil die nunmehr neunprozentige Gebühr auch auf Versandkosten erhoben wurde. Warum? Das erklärten selbst die recht ausführlichen FAQ nicht weiter. Vermutlich sollten Verkäufer:innen davon abgehalten werden, die für sie gestiegenen Kosten über eine Erhöhung der Versandkosten auszugleichen. Denen blieb danach entweder die Wahl, die Preise allgemein anzuheben – nicht gut für die Kundschaft und so vielleicht auf Dauer womöglich weniger profitabel – oder aber die Einbußen hinzunehmen.

Das alles ist an sich zweifelhaft, weil Discogs sein Monopol offenkundig ausnutzt. Noch zweifelhafter ist, ob die Plattform wirklich auf diese Mehreinnahmen angewiesen ist, um "weiterhin Ressourcen zur Pflege des Discogs Marketplace und der Entwicklung von besseren Werkzeugen zum Sammeln, Verkaufen und dem Genuss von Musik abzustellen", wie es maximal vage in den oben genannten FAQ zu lesen war. Seitdem gab es nur kaum merkliche Updates der im Jahr 2025 geradezu antik scheinenden Website. Die Notification-Symbole sind nunmehr knallig-rot, aber was hat die Kundschaft denn davon? Das weiß niemand. Was Discogs von ihr aber hat, das lässt sich auf Grundlage einiger Zahlen vermuten.

Mutmaßliche Millionenprofite

Discogs veröffentlicht keine Statistiken über seine jährlichen Einnahmen. Allein für das Jahr 2016 schätzte das US-amerikanische Branchenmagazin Billboard aber den Jahresumsatz der Plattform auf 100 Millionen US-Dollar. Seitdem ist das Verkaufsvolumen gemeinsam mit der Größe der Datenbank angewachsen. Im Jahr 2018 zählte Discogs 10,9 Millionen über die Plattform verkaufte Tonträger, im Folgejahr rund 14,6 Millionen und 2020 dann etwa 15,7 Millionen. Das erste Pandemiejahr war kein Ausreißer: In der letzten "Discogs Marketplace Seller's Analysis" für 2023 bezifferte Discogs die Anzahl der verkauften Tonträger auf 15,6 Millionen. Aus den geschätzten 100 Millionen US-Dollar Umsatz sind in der Zwischenzeit mutmaßlich noch viele mehr geworden.

Nun ist Umsatz freilich nicht gleich Gewinn und muss das alles potenziell nicht heißen, dass Discogs ein milliardenschweres Unternehmen ist. Die von der Firma Zink Media getragene Plattform wird aber wohl kaum ein Minus machen – denn welche Kosten soll sie schon haben? Auf LinkedIn gibt Discogs an, lediglich zwischen 51 und 200 Beschäftigte zu haben. Die Arbeit an der Datenbank erledigt die Kundschaft, die Website kann unmöglich allzu viele Ressourcen verschlingen, am ehesten dürften wohl tatsächlich Kosten für die Buchhaltung und Rechtsabteilung zur Last fallen. Das alles lässt den Schluss zu, dass die Plattform jährliche Profite in Millionenhöhe erwirtschaftet.

Davon geht wie gesagt herzlich wenig an diejenigen, die die über die Plattform verkauften Tonträger geschrieben, produziert und veröffentlicht haben. Menschen wie diejenigen also, deren Häuser von den Flammen zerstört wurden und deren Existenz nun auf Messers Schneide steht. Ihnen helfen zu wollen, ist eigentlich ehrbar. Dafür aber die eigene Kundschaft an die Kasse zu bitten und sich selbst fein säuberlich aus der Affäre zu ziehen, um still und heimlich ohne eigene Kosten auf ein bisschen gute Presse zu warten, obwohl mehr als genug eigenes Geld da sein sollte: Das ist der Gipfel der Scheinheiligkeit. Es gab schon vorher ausreichend Gründe, um Discogs für parasitär zu halten. Und jetzt noch einen mehr.

Veröffentlicht in Features und getaggt mit Bruchstelle , Discogs , Los Angeles

Deine
Meinung:
Bruchstelle: Discogs’ Spendenaktion für Los Angeles – Der Gipfel der Scheinheiligkeit

Wie findest Du den Artikel?

ø: