
Aus der Glosse: Afterhours sind die letzte Bastion der Entrückten
Sonntagmorgen, der Club spuckt Schweiß und Sorgen aus. Die Straßen sind still, Zeit existiert nicht mehr. Irgendwer hat doch noch Zigaretten. So steht man da, eine zerknitterte Gruppe aus Euphorisierten, Dehydrierten und jenen, die einfach keine andere Wahl haben. "Afterhour?", fragt jemand, und plötzlich ist der Kurs klar.
Die Afterhour ist kein Ziel, sie ist eine Flucht. Ein Zustand aus purer Verweigerung, die Realität zu akzeptieren. Wer jetzt nach Hause geht, verliert. Oder fühlt sich zumindest so. "Schlafen? Das ist doch für Leute mit geregeltem Leben!", sagt der Hausverstand, während da jemand eine zerknitterte Zigarettenschachtel durchsucht, als wäre darin der Sinn des Lebens versteckt.
Komm schon, kleiner Bump
Der Ort für die Afterhour steht immer fest: eine Wohnung, die mehr Aschenbecher als Geschirr hat, ein vollgemülltes Wohnzimmer mit Matratzen auf dem Boden. Oder der Decke. Irgendwer kennt jedenfalls die Adresse, man könnte noch nein sagen. Nicht einsteigen. Nach Hause gehen.
"Komm, ein kleiner Bump", sagt da die Taxibekanntschaft und hält einem den Schlüssel hin. Es schmeckt wieder bitter, ätzend, zieht in die Nebenhöhlen und dann in die Schädeldecke. Das, ja das, ist der Übergang von der Nacht ins Nirgendwo. Dann, kurz, alles – auf Reset.
Dritter Stock, dumpf. Jemand streuselt Koks auf eine Buchrückseite von Marx oder Murakami. Am Ende ziehen alle, die Zungen sagen Schwachsinn. Die Musik auch. "Ich hab noch was zum Ausbalancieren", sagt einer und zaubert ein Fläschchen aus der Tasche, das aussieht wie ein Duschgel von dieser fancy Seifenmarke.
"Nicht zu viel, das ist kein Spaß," warnt die Vernunft, während sie den ersten Schluck macht. Eine Viertelstunde später sitzt sie auf dem Boden und behauptet, sie habe "den besten Moment ihres Lebens". Mit Pupillen wie Satellitenschüsseln und einem Gesichtsausdruck, der irgendwo zwischen kaum und wenig Zukunft liegt.
Die Rechnung, bitte!
Derweil verschwimmen HÖR-Sets im Zeitraffersekundenschlaf. Irgendwann läuft ein Klassiker – wahrscheinlich 'Energy Flash' oder Flügel oder irgendwas von Plastikman – und, endlich, weil voll deep: die 30-minütige Ambient-Version von 'Riders On The Storm'.
Das ist der Punkt, an dem die Magie bröckelt. Es ist der Moment, in dem jemand versucht, irgendwas versucht – mit Long Papes und das Pulver auf dem Boden landet. Eine hitzige Diskussion beginnt. "Hast du überhaupt bezahlt?" "Ja". "Na, dann ist gut."
Man ist nun kein Mensch mehr, man ist nun Substanz. Gesteuert von Gefühlen. Irgendwer hat deshalb Tränen in den Augen. "Ich wünschte, es wäre immer so", und dann legt der oder die sich noch eine, die dritte in fünf Minuten. Aber, ey: "War das jetzt Keta oder Speed?"
"Vielleicht sollten wir gehen", murmelt jemand, aber niemand steht auf. Jetzt gehen, das fühlte sich an wie Hochverrat, als würde man die gesamte Menschheit ausliefern. Diese fragile Gemeinschaft aus verlorenen Seelen, die sich gegen den Montag, den Dienstag, gegen geordnete Verhältnisse verschworen hat.
Dann geht doch wer. Und noch wer. Die Afterhour hat trotzdem kein Ende. Sie zerfasert nur in Szenen, ist der Schleifpunkt in der Kupplung zwischen kaputten Menschen und kaputtem System. "Kannst du mir das bitte aufschreiben", sagt nochmal wer. Aber dann ist es schon zu spät.
0 Kommentare zu "Aus der Glosse: Afterhours sind die letzte Bastion der Entrückten"