DIGITAL - Fluch oder Segen?

DIGITAL - Fluch oder Segen?

Archiv. 27. Mai 2011 | / 5,0

Geschrieben von:
admin

Die Welt der Nullen und Einsen ist in Sachen DJing nicht mehr weg zu denken. Die sich daraus ergebenden kreativen Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt - so wie die resultierenden Hürden.

 

 

Durch die Digitalisierung ist beim Auflegen vieles einfacher und erschwinglicher geworden. Man braucht nicht zwingend 1000+ Euro als Startkapital und trägt Monat für Monat die potentielle Bausparer-Einlage in den Plattenladen. Nein, man kann mit relativ wenig Budget sein Ding machen. Dies machte sich in den letzten Jahren unüberseh- und hörbar bemerkt, es gab wohl noch nie so viele "DJs" wie heute. Und das ist auf den ersten Blick auch nicht mal schlecht, denn so wurden viele Talente geboren. Sie zu finden, gleicht dann allerdings der berühmten Stecknadel im Heuhaufen, denn Qualität verhält sich hier leider sehr oft indirekt proportional zur Quantität. Aber ob nun Upcoming next-level Sven oder Spass-an-den-Reglern Heinz, jeder einzelne hat seine Daseinsberechtigung und soll das machen dürfen, wozu er Lust hat.

Was uns jedoch verstärkt auffällt, ist ein gewisses Alles-haben-und-können-wollen Verhalten, das mehr und mehr zu nimmt. Plötzlich reicht es nicht mehr, einfach nur zwei Tracks über ein DVS zu mixen, wenn man die MIDI-Clock auch in weiteren Tools verwenden kann. Da muss eine Maschine oder Ableton dazu, weil Richie macht das doch auch so! Also wird sich von irgendwo her ein Ableton Live besorgt und ab geht er - und zwar direkt in einschlägige Fachforen mit der Frage "Ableton und Traktor syncen - wie?". Nun setzt sich ein täglich wiederkehrendes Ritual in Gang, in dem der Fragesteller mit Begriffen wie Virtual-MIDI, Offset, MIDI-Sync, Latency usw. konfrontiert wird, worauf dieser meist nur mit einem souveränen "Hä?" kontert. Spätestens hier erkennt der routinierte Hilfegeber das fundierte Basiswissen des Fragenden, schüttelt kurz den Kopf, macht sich einen frischen Kaffee und setzt sich auf den Balkon zum Schmetterling-Gucken. Währenddessen schaltet sich Neuling Nr.2 ein, der mit professionellster Praxiserfahrung punkten kann, die er von seinem Kumpel geerbt hat, der dieses Wissen selbst durch seinen anderen Kumpel erlangte, dessen Bruder schon mal gesehen hat, wie der Richie das macht - aus nächster Nähe auf Youtube. Und dann wird mit massivsten Halbwissens-Granaten nur so um sich geschossen.

Nun, was will ich damit sagen? Die Kernaussage hierbei soll nicht sein, dass alle Neulinge doof sind! Im Gegenteil, es soll verdeutlichen dass Digitales DJing in seiner erweiterten Form schlicht und einfach eine gewisse Grundlage an Wissen voraussetzt, die man sich nur selbst beibringen kann. Erst dann macht die erweiterte Hilfe in Foren & Co. wirklich Sinn, denn ab einem bestimmten Punkt müssen alle Beteiligten die gleiche Sprache sprechen. Alles andere endet meist in Frust und Unverständnis - und zwar auf beiden Seiten.
Wer mit MIDI rumdoktern möchte, der muss sich auch MIDI-Grundlagen beibringen. Wer mit Ableton performen will, der muss sich mit dem Unterschied Audio/MIDI auseinandersetzen. Wer sich eine MP3-Sammlung anschafft, muss (oder sollte) sich mit Bitraten und ID3-Tags auskennen, wenigstens elementar. Ein MIDI-Keyboard spielt nunmal keine Töne, so lange es nicht an einen Klangerzeuger angeschlossen ist. Die MIDI-DJ-Konsole ist einfach kein "Mischpult" oder "Mixer" (beides im klassischen Kontext betrachtet), das kann man drehen und wenden wie man will. MIDI ist MIDI, und Audio ist Audio. Letzteres hört man und das andere steuert nur, was man hört.

Um den Anfangsgedanken aus der Einleitung wieder aufzugreifen: Digitales DJing bietet endlose Möglichkeiten und Optionen! Und als solche sollten diese auch angesehen werden, nämlich als Optionen. Option ist verwandt mit optional, und optional bedeutet auswählbar / möglich. Es ist keine Bedingung, keine Voraussetzung und keine Zwangsvorgabe. Dies wird gerade bei der Verwendung von digitalen Tools sehr gerne ignoriert. Alles was möglich ist, soll auch gefälligst zum Einsatz kommen. 4 Traktor-Decks + Loop Recorder + Maschine? Na klar! Wer mit einem solchen Setup umzugehen weiß (angefangen von den technischen Grundvoraussetzungen über die Praxistauglichkeit bis hin zur kreativen Effektivität), der darf und soll das gerne tun. Leider werden die in Klammern genannten Aspekte oft nur teilweise oder auch gar nicht beachtet. Denn den Equipment-Pulk mit einer Maschine zu erweitern, nur um dann den Abend über ganze 5 mal eine kaum definierbare Snare reinzukloppen, ist alles - aber mit Sicherheit nicht ergonomisch oder effektiv. Im Gegenteil, alleine der Aufbau und die Logistik, die zusätzliche potentielle Fehlerquelle und ein oftmals von außen deklarierter "Poserstatus", all das bringt die zu Beginn dieses Artikels genannten Hürden ins Spiel. Man fängt an, sich selbst auszubremsen, obwohl man doch soo viel geiles Zeug um sich stehen hat.
Ähnliches ist bei Traktor im Solo-Betrieb der Fall: denn wenn man schon 4 Decks und 30 Effekte hat, dann nutzt man die doch auch! Schließlich hat man doch dafür bezahlt (oder auch nicht, aber darum soll es hier und heute nicht gehen...). Somit wird das Mittel zum Zweck der Zweck selbst, nicht das Endresultat. Manchmal hilft es, sich das Ganze aus Sicht eines Dritten zu betrachten. Brauch ich wirklich 4 Decks? Müssen es unbedingt die 3 Effekte gleichzeitig sein? Oder klingt es vielleicht sogar besser, mal nur 2 Decks laufen zu lassen mit gut selektierten Tracks, die perfekt zusammen harmonieren, ganz ohne irgendwelche Effektverschlimmbesserungen? Auch wenn man all die tollen Features ständig mit sich rum trägt, sollte man sich deren Status bewußt sein: sie sind und bleiben OPTIONEN! Ich kann sie einsetzen, ich kann aber auch (temporär) drauf verzichten. Nur wenn ich sie nutze, sollte ich damit auch ein klar definiertes Ziel verfolgen.
Ein schöner Vergleich ist der mit einem Auto. Heute gibt es wohl kaum mehr ein Fahrzeug ohne Airbag. Dieses Sicherheits-Feature ist permanent aktiv und wird Kilometer für Kilometer mitgenommen. Aber wer ist dabei schon mal auf die Idee gekommen: hey, meine Karre hat nen Airbag und den hab ich schließlich auch bezahlt - also nutz ich ihn auch! Und zack, geht's gegen die Mauer! Ich glaube wir sind uns alle einig, dass niemand auf eine solche Idee kommen würde. Adaptiert man nun dieses Beispiel auf sein DJ-Equipment, kommt in etwa das gleiche raus. Man bekommt all die Features und Möglichkeiten geboten, ist aber nicht permanent in der Situation diese auch wirklich und uneingeschränkt zu benötigen.

Wollen wir die Sache mit den Hürden und dem im Titel erwähnten Fluch noch mal aufgreifen. Nun, die Digitalisierung kann sich sehr schnell negativ auf die persönliche Entwicklung auswirken, wenn man eben den Fehler macht, Optionen nicht als Optionen anzusehen, sondern als bezahlte und präsente Features, die man dann auch gefälligst ausschöpfen und einsetzen will, ohne dabei das eigentliche Ziel weiterhin klar und deutlich zu forcieren. Mehr Equipment bedeutet mehr schleppen, bedeutet mehr aufbauen und bedeutet, mehr unter Kontrolle halten zu müssen. Dies kann einem dann mal ganz schnell Steine, nein was sag ich - Felsbrocken in den Weg legen, an denen man erst wieder vorbei jonglieren muss. Nicht überall lassen sich x Controller und zwei Laptops aufbauen (außer, man heißt Christoph L., hat ein eigenes Label und wenigstens 3 qm freie Tischfläche im Technical Rider stehen), auch im Jahr 2011 muss man sich vielerorts jeden freien Quadratzentimeter Booth hart erkämpfen. In solchen Locations wird dann selbst die Installation eines schnöden langweiligen Zweideck-DVS ohne irgendwelche Gimmicks zum Highlight des Abends. An Effektcontroller oder gar Maschine ist da mitnichten zu denken, zumindest nicht rational. Wenn nun Mr. Upcoming Gearjunkie dennoch eine Lösung findet und sich seine Spaceshuttle Kommandozentrale rundherum aufbaut, dann kann er davon ausgehen, den gesamten Auftritt über nicht mehr aus den Augen gelassen zu werden. Dies ist oftmals aber eher weniger dem Sexappeal des agierenden Protagonisten geschuldet, als viel mehr der abenteuerlichen und für die Location eher unpassenden Technikinstallation. Wenn Mr. Upcoming Gearjunkie nun aber genau das tut, was ich oben bereits erwähnte - nämlich auf seiner Maschine ganze 5 HiHats abzufeuern, kann er sich der Poser-Brandmarkung sicher sein. Unterm Strich bleibt dann 'ne Menge Schlepperei von Equipment und der Aufbaustress des selben, für einen musikalisch eher durchschnittlich wirkenden Gesamteindruck. Fazit: viel Rauch um nix, mehr Schein als Sein. Und man hätte es ja so viel einfacher haben können, wenn man sich beim Equipment auf's Wesentliche und Essentielle beschränkt hätte. Das ist wie bei einem Wasserfarben-Malkünstler: der eine braucht die komplette Nuancen-Palette auf drei Ebenen und dem anderen reichen die Grundfarben und sein Wissen über Farbenlehre. Und trotz der doch sehr unterschiedlichen Ausgangslagen können beide das gleiche farbenfrohe Bild erschaffen, der eine eben nur mit seinen 435 einzelnen Farbtönen und der andere eben mit einer Handvoll Grundfarben und Know-How.
Gravierend negativ wird es vor allem dann, wenn die technischen Probleme zunehmen und mehr und mehr Zeit für die Lösungssuche draufgeht. Denn dann tritt das eigentliche Ergebnis automatisch immer weiter ins Abseits und die Hauptbeschäftigung besteht aus am-Setup-basteln. Wie bereits angesprochen, das Mittel zum Zweck mutiert zum Zweck, ist Mittel und Zweck zugleich und nüchtern betrachtet existiert dadurch auch kein Zweck mehr. Und wofür das Ganze? Nun, wer diese Frage mit einer deutlichen und klar definierten Antwort erwidern kann und es auch wirklich keinen anderen, womöglich sogar effektiveren Weg zum Ziel gibt, der wird aus der Mittel-Zweck-Spirale über kurz oder lang auch wieder einen Absprung finden und schaffen. Jeder andere sollte sich in einer ruhigen Minute lieber mal mit dem Elementarsten und Grundsätzlichsten seines Vorhabens beschäftigen und sich fragen, ob das wirklich noch der richtige Weg ist, auf dem er sich gerade befindet.

Dieser Beitrag ist kein Flame gegen wen-auch-immer, soll niemanden denunzieren und auch keinen entmutigen. Er soll lediglich ein kleiner Gedankenanstoß sein, wieder ein wenig selbständiger zu werden. Ihr dürft wirklich alle machen, kaufen, spielen, was ihr wollt! Aber wer mehr will, muss einfach auch mehr geben - nicht zwingend Geld, sondern vielmehr Eigenleistung in Bezug auf Basiswissen erweitern, Fachwissen aneignen und vor allem essentielle Grundlagen verstehen. Ohne die geht es nunmal nicht, und das ist Fakt. 😉

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