Irgendwann hat jemand beschlossen, dass Halloween auch in Clubs stattfindet. Vermutlich derselbe Mensch, der dachte, Aperol sei ein Lebensgefühl, jedenfalls: Aus dem Kürbisfest für amerikanische Teenager ist einer der umsatzstärksten Abende des Jahres geworden. Und zwar für alle, die glauben, dass Authentizität nur eine Verkleidung ohne Budget ist. Man steht in der Schlange, draußen dreißig Meter kalter Asphalt, drinnen zu viel Nebel, der nach Cola-Rum und Vanille-Deo riecht. Eine Hexe checkt ihr Spiegelselfie. Ein Zombie dampft Mango Ice. Und der Typ im Ganzkörper-Latex war letzte Woche schon mal da.
Halloween liegt terminlich perfekt. Nach den Ferien, vor Weihnachten, mit genug emotionalem Puffer in beide Richtungen. Ein Abend, der nicht auf Sommererinnerungen baut, sondern auf der Sehnsucht nach Eskalation, bevor der November alles für ein paar Monate einfriert. Das Wetter ist schlecht, der Ausblick auch. Man braucht ein Ventil. Und Halloween ist der billigste Weg, mal wieder so zu tun, als wäre man jemand anderes, ohne dafür gleich einen Selbstfindungstrip nach Bali zu buchen. Es ist der Karneval der Erschöpften. Der Feiertag der Freizeitpsychopathen. Niemand will Halloween verpassen. Selbst wenn man längst vergessen hat, warum.

Vielleicht, weil man an Halloween nicht mehr sich selbst sein muss. Der Clown darf weinen, der Broker tanzen, und der Typ mit den LED-Kontaktlinsen sagt endlich schon vor der Afterhour, dass er Gefühle hat. Man kann alles, solange man es nicht ernst meint. Halloween ist die große Entschuldigung für alle, die das Jahr über nach Funktionsjacken riechen und wie Spreadsheets schmecken. Plötzlich, für eine Nacht, darf man komplett crazy sein und sogar kotzen. Es gehört schließlich zur Rolle.
Ich hab heute leider kein Foto für dich
Dabei gibt es keine ironischen Kostüme mehr. Jeder meint es ernst. Die Leute schminken sich, als hinge ihr Sozialstatus von der Präzision der Fake-Wunden ab. Früher kaufte man Teufelshörnchen aus Plastik für 1,99 Euro. Heute: Latexhaut, Kunstblut, Hollywood-Schmink-Tutorials, und ein Outfit, das man in jedem anderen Kontext als konzertiert auffällig bezeichnen würde. In Köln nennt man das Karneval, in Berlin: Konzeptkunst.
Der Club wird zum Laufsteg des Untergangs. Zwischen Nebelmaschine und Stroboskop haben sich Mode- und Drogentrends der letzten zehn Jahre ineinander verkeilt. Balaclava trifft Blistex, Piercing auf Pixelbrille. Eine Gruppe ausnahmslos schöner Menschen trägt dieselbe DIY-Interpretation von "Sexy Tod". Einer tanzt im Ganzkörper-Skelettanzug, aber mit Designer-Gürtel. Ein anderer trägt einfach sich selbst, was in dieser Nacht das mutigste Kostüm von allen ist.
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Mehr InformationenUnd irgendwo läuft ein Track, den man eigentlich hassen wollte. So ein Remix, der klingt, als hätte ein Algorithmus Speed genommen. Aber heute passt das. Der DJ heißt Pete Ray oder Miguel Panzer und er trägt keine Verkleidung, nur die übliche Lederjacke des Selbstverständnisses. Auf dem Floor: ein kollektives Grinsen zwischen Ekstase und Zähneknirschen. Jemand schreit "Bänger!" und meint es religiös.
Sie leben!
Halloween ist der einzige Abend, an dem Ironie wieder erlaubt ist. Wenn plötzlich "Thriller" läuft, tanzt man nicht aus Nostalgie, sondern aus Trotz, weil: Es ist alles so offensichtlich, dass es schon wieder gut ist. Die Musik hat denselben Zweck wie das Kostüm. Es geht um Ablenkung. Man tanzt, um nicht nachzudenken. Um die Rechnungen, die Nachrichten, das eigene Spiegelbild im U-Bahn-Fenster um halb sieben kurz zu vergessen. Hard Techno, Trance, Pop-Edit – egal. Hauptsache laut genug, um die eigenen Fragen nicht mehr zu hören.
Das geht natürlich ins Geld, aber: Halloween ist Kapitalismus in seiner ehrlichsten Form. Kein Zynismus, keine Rumdruckserei. Nur Angebot, Nachfrage, Eskalation. Clubs schreiben "Spooky Edition" aufs Line-up und erhöhen den Eintritt. Bars verkaufen "Bloody Spritz" für 14,50. Und alle zahlen es gerne, weil sie ja schon investiert haben: 200 Euro fürs Outfit, 80 für die Nägel, 30 fürs Taxi. Die Nacht ist eine Wertschöpfungskette mit gruseligen Preisen.
Das kann man den Clubs in Zeiten des sogenannten Clubsterbens nicht übel nehmen – es funktioniert ja. Halloween verkauft sich selbst. Niemand muss ein Konzept erklären. Es ist der Tagtraum jedes Marketingmenschen. Ein Gefühl, das man schon kennt, aber jedes Jahr neu bezahlt. So ist das Event längst größer als der Anlass. Und, jetzt kommt er, der größte Augenauswischer des Tages: Ein Fest, das den Tod feiert, hält den Club am Leben, buh!

Alle tanzen Totentanz
Am Ende der Nacht ist man wieder man selbst. Oder zumindest jemand, der so aussieht. Das Make-up verschmiert, die Perücke hängt schief. Die Jacke riecht nach verschütteten Energy Drinks. Man steht draußen, friert. Aber irgendwo pumpert noch Musik, aus einem Uber vielleicht, "Sandstorm" oder "Praise You". Alles klingt ein bisschen wie ein Echo von etwas, das mal Spaß hieß.
Deshalb ist Halloween der ehrlichste Abend des Jahres, weil niemand so tut, als wäre er echt. Alle wissen, dass alles Oberfläche ist und genießen es endlich. Es gibt keine Haltung, niemand labert von Diskurs. Der Club ist einfach nur ein Spiegelkabinett der Gegenwart. Es glitzert und zerfällt. Und wenn dann am nächsten Tag fast alle zum Friedhof huschen und irgendwo in der Ferne die Kirchenglocken bimmeln, weiß man: Die Sünde war es wert.

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