CTM Festival 2024: Aushalten, erhalten, überwinden – und neu ordnen
Last and First Men / © Camille Blake

CTM Festival 2024: Aushalten, erhalten, überwinden – und neu ordnen

Features. 13. Februar 2024 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Redaktion

Das diesjährige Motto des CTM Festivals (früher auch Club Transmediale) in Berlin lautete "Sustain". Es ging in den Performances, Konzerten, Live- und DJ-Sets über zehn Tage um die Aushandlung dessen – um Aufrechterhalten, Aushalten, Überwinden, Existenz und auch immer wieder um Neuordnung. Unsere zwei Autorinnen Nastassja von der Weiden und Nikta Vahid-Moghtada haben sich das Festival unter anderem im Silent Green, im Berghain und in der Volksbühne angeschaut.

Alle Wege führen zum Start des CTM-Festivals erst einmal ins Silent Green, ein ehemaliges Krematorium im Wedding, das zur Kultur-Location umgebaut wurde. Hier können Tickets in Festivalpässe getauscht werden, es gibt Merch und Shirts mit dem diesjährigen pink-schwarzen Design zu kaufen, Menschen verteilen sich zwischen den Eingängen zur Kuppelhalle und der Betonhalle auf dem Gelände. Das Eröffnungskonzert findet an diesem ersten Festivaltag in der Betonhalle statt, schon früh stehen hier die Besucher:innen Schlange.

Auf dem Weg, in der U-Bahn, begegnet uns im "Berliner Fenster", dem kleinen Monitor mit News und Werbung in den BVG-Wagen, der Hinweis, dass die 25. Edition des Festivals für elektronische und experimentelle Musik in verschiedenen Locations der Stadt stattfindet. Das Festival ist mit seinen 25 Jahren offensichtlich älter als einige seiner Besucher:innen; das CTM ist aber auch für ältere Anhänger:innen aus der ganzen Welt ein besonderes Jahreshighlight, eine Art Homecoming. So ist es auch diesmal. 

© Nastassja von der Weiden

Aber es ist wohl das erste Mal in der 25-jährigen Festival-Historie der Fall, dass über 20 Künstler:innen ihren Auftritt wegen eines Streiks abgesagt haben. "Strike Germany" heißt die Initiative, unter der sich Künstler:innen versammeln, die sich gegen die Antidiskriminierungsklausel (die mittlerweile wieder abgeschafft wurde) des Berliner Senats in Reaktion auf den 7. Oktober und die Situation in Israel und Palästina aussprechen und den Kulturbetrieb in Deutschland, der von Förderinstitutionen betrieben oder unterstützt wird, bestreiken. 

Auf der Website der CTM sind die Künstler:innen und diejenigen, die ihre Slots übernommen haben, kenntlich gemacht. Auch während des laufenden Festivals kamen Namen hinzu. In einem Statement betonen die CTM-Macher:innen, man respektiere die Entscheidung der Künstler:innen und sei mit ihnen weiter im Gespräch:

"As a music festival we believe that art and culture provide valuable spaces for encounters and reflection, and remain dedicated to keeping such spaces open to discuss and negotiate our differences with mutual respect."

Man sei überzeugt davon, dass in Kunst- und Kulturräumen fruchtbare, zugewandte Reflexion über verschiedene Haltungen und Ansichten stattfinden könne. Und das soll trotz Streik gelingen, mit einem kurzfristig angepassten Programm und den genannten Line-up-Änderungen. 

Eröffnung im Silent Green und im Berghain

Los geht's am 26. Januar 2024 mit Konzerten von Moundabout, einem Folk-Duo aus Irland, und Anna von Hausswolff. Die schwedische Sängerin und Organistin gab im Silent Green das erste Konzert, auf dem sie ihre neue Musik live vorstellte, wie sie dem Publikum sagte: "We're nervous, but also excited to play new songs." Von Nervosität ist eigentlich nichts zu spüren, aber große Spielfreude, auch bei ihren teilweise älteren, bei Fans bekannteren Stücken. 

Ihr Sound ist eigen, schwer fassbar, dennoch glasklar-scharf, zwischendrin wird ein gefühlt minutenlanges Noise-Crescendo aufgebaut, das gleich darauf Platz für eine Ballade macht – Anna von Hausswolffs Performance ist an diesem Eröffnungsabend erleuchtend und emotional. Die am Rand sitzenden Zuhörer:innen haben teilweise die Augen geschlossen und genießen ohne weitere Regung die Musik. 

Nach dem Konzert fahren einige von ihnen noch weiter, schließlich ist es der Eröffnungsabend: Der Großteil ist bereit, gleich noch ins Berghain zu fahren, um für die Opening Night anstehen und sich nach Einlass entscheiden zu müssen, welche Acts sie auf welchen Floors hören und sehen wollen. 

Das Silent Green / © Nastassja von der Weiden
Silent Green Eingang/© Nastassja von der Weiden

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Denn die Parallelität der Acts, wie bei fast allen Festivals, zwingt zum Priorisieren. Für die meisten ist das an jenem ersten Berghain-Abend der Auftritt des neunfachen Grammy-Gewinners Skrillex b2b Tatjana Jane in der Panorama Bar. Über drei Stunden hinweg wird hier der Dancefloor zum Hexenkessel, nicht mal vom Raucherbalkon aus kann man einen Blick auf die beiden erhaschen – es ist einfach zu voll. Ab drei Uhr gibt es in diesem Raum gewissermaßen kein Morgen mehr, sondern nur noch Jetzt. Und ja, es trifft den Geschmack und den Vibe der Tänzer:innen, mehr noch, es ist sichtbar eines ihrer großen Highlights. 

Das viel benutzte Wort "Energie" muss herhalten, denn es ist nunmal das passende Wort – die ausgehende Energie ließ sich übersetzen, übertragen und multiplizieren. Mit Zwischenapplaus für 'Fine Day Anthem', dem melodischen Ohrwurm von Opus III, geremixt von Skrillex und Boys Noize. Die Melodie von 'Fine Day Anthem' wird schließlich noch ein zweites Mal, dieses Mal als Closing, angespielt. Mit dieser Tonfolge im Ohr brechen nun viele auf, es ist sechs Uhr früh und irgendwie fühlt es sich, gemessen an der Musik, die man aufgenommen hat, spät (genug) an. 

'Fine Day Anthem' ist seit dieser Nacht (m)ein CTM-Powersong: Immer wenn man sich ein wenig quälen muss, um zu einem Workshop oder Konzert aufzubrechen (und dieses Gefühl kommt, ob man will oder nicht, nach einigen Tagen), höre ich den Song und gehe los, weil die (schöne) Erinnerung an die erste Nacht des Festivals darin nachhallt. 

(nvdw)

CTM 2024: Grenzerfahrungen und Atemprobleme

Auch an Tag zwei führt der Weg zunächst zurück ins ehemalige Krematorium. Dass das CTM auch ein politisches Festival ist, zeigt sich in der multisensorischen Installation "Oceanic Refraction" in der Kuppelhalle des Silent-Green-Kulturquartiers. Die Plätze sind rar – es können nur wenige Besucher:innen gleichzeitig in die Halle und die Zeitfenster, die vorab gebucht werden müssen, sind schon zu Beginn der Woche fast restlos ausverkauft. Das Projekt ist gemeinsam mit der großen Schwester des CTM Festivals, der transmediale, entstanden.

Die Arbeit von Mere Nailatikau, AM Kanngieser, KMRU, Laisiasa Dave Lavaki und Tumeli Tuqota verfrachtet die Besucher:innen auf plätschernde Wasserbetten in die Mitte des Raums und hüllt sie in ein Meer aus 360-Grad-Videographie, Sound und Geruch (toter Fisch soll es sein, sagen die Artists, "es roch irgendwie nach Füßen", meint eine Besucherin hingegen beim Verlassen des Raums, wiederum eine andere fand den Duft sogar angenehm.

Die CTM polarisiert auch in der Nase). Schön fühlt sich das Ganze an, ein kurzer Moment der Ruhe, des Liegens und Innehaltens, wenn auch das Thema der immersiven Installation alles andere als schön ist: der globale Ökozid. Tonaufnahmen beispielsweise von den Riffen vor den Fidschi-Inseln oder den Duke-of-York-Inseln von Papua-Neuguinea gehen einher mit den Gedanken der Inselbewohner:innen.

Mojtahedi live
Mojtahedi live / © Udo Siegfriedt

Politisch geht es auch beim anschließenden Konzert von HJirok in der Betonhalle zu. Das Duo, bestehend aus der Sängerin Hani Mojtahedy und Andi Toma von Mouse on Mars, arbeitet seit 2021 an dem Projekt, das ursprünglich als einmalige Performance für das Haus der Kulturen der Welt in Berlin geplant war. Im März erscheint ihr gleichnamiges Album auf dem Leipziger Label Altin Village & Mine. 

Mojtahedi, die in Sanandaj im kurdischen Teil des Iran geboren ist, lebt mittlerweile in Berlin, wo sie das machen kann, wofür sie im Iran verhaftet oder erhängt würde: Als Frau auf einer Bühne stehen und singen. Und wenn Hani singt, bleibt mir die Luft weg. Field Recordings aus ihrer alten Heimat, hypnotisch-rhythmische Sufi-Musik und der stark veränderte Sound einer Setar vereinen sich mit kurdischen und persischen Texten und Tomas' dubbigen Beats. Am Morgen darauf wache ich mit der Botschaft über vier exekutierte kurdische Protestierende auf. Und wieder bleibt mir die Luft weg, wenn auch aus anderen Gründen.

Auch Ben Frost sorgt am Samstagabend noch für eine Grenzerfahrung der körperlichen Art – wenn auch eine nicht so angenehme wie HJirok. Ben Frost liefert den Sound dafür, wie sich die Welt gerade sehr oft auch anfühlt. Zerstörerisch laut, schmerzhaft, aufwühlend. Die einen sind hin und weg, andere (ungefähr ein Drittel des Publikums) verlassen den Raum. Und ganz ehrlich: Wer keine Ohrstöpsel hat, riskiert, dass das Ganze auch eher zu Körperverletzung mutiert, als dass es noch Spaß macht. Der Bass dröhnt so intensiv, dass ein Gast um seine Darmgesundheit fürchtet. Auch mein Innerstes vibriert, der Brustkorb hämmert, das Atmen fällt schwer. Schon wieder.

(nvm)

Berghain, again: Fitnesss feat. Lung

Ein wenig Zeit ist vergangen, bis ich wieder ins CTM-Festival einsteige. Denn das Festival wird ungewöhnlich ausgedehnt bespielt. Einerseits, was die Locations angeht, andererseits, was auch die zeitliche Spanne von zehn Tagen angeht. Um es mit Lady Gaga zu sagen: No sleep! Bus, club, another club, another club, plane, next place… Man kann nicht alles mitnehmen, sehen, hören, zeitlich-logistisch erreichen.

Und auch die eigene Aufnahmefähigkeit ist nicht grenzenlos. Das muss man hinnehmen. Trotzdem kreuzen sich die Wege mit Besucher:innen, die einen ähnlichen Geschmack haben (oder jede Berghain-Nacht mitnehmen), was in der Empfindung zu einem Festival- statt immer wieder neu-generierten Konzertgefühl beiträgt. Auch wenn man, wie ich, ein paar wenige Tage ausgesetzt hat.

Nachdem sich diejenigen, die früh genug ein Extra-Ticket gebucht haben (zu denen ich glücklicherweise zählte) nachmittäglich auf den Wasserbetten in der Kuppelhalle im Silent Green wieder in den Festivalmodus begeben haben, bietet der Donnerstagabend ab 22 Uhr im Stundentakt auf dem Berghain-Floor intensive Performances. Erst eine Hardcore-Electro-Rap-Performance von Hazey Haze und 40Hurtz "zum warm werden", bevor Fitnesss und Lung die rot beleuchtete Halle mit gehauchten, sakralen Tönen im Wechsel mit tief körperlich eindringenden Schreien und dröhnendem, positiv gemeint, Horror bespielen.

Hier zeichnet sich deutlich das Festivalmotto und die Frage ab: Wie klingt "Sustain"? Ist "Sustain" ein hochgepitchter Schrei, der langsam und unaushaltbar den Kopf zerfrisst? Ein Grummeln, ein monotones Dröhnen? Eine weiche, süße Melodie? All das, im Wechsel, parallel oder losgelöst voneinander?

© Nastassja von der Weiden

Die Treppe zur Panoramabar ist dabei eher Aussichtspunkt als Durchgangsportal, verständlich – die Performance findet inmitten des Berghain-Floors und nicht auf der Bühne statt. Am Mischpult ist bekanntlich der beste Sound, dort kann man nun zwar echt so gar nichts betrachten, aber mich "friert" es an diesem Ort bis zum Schlussapplaus ein. Das Ende von Fitnesss und Lung bedeutet wiederum für mich: Ciao Berghain, hallo Bett.

Unter ein paar Besucher:innen, die ich zufällig einen Abend später wieder treffe (so langsam kennt man eben ein paar Gesichter), wird über den Auftritt von Fitnesss und Lung am meisten gesprochen. Bei ihnen und mir blieb ein Eindruck des Unbehagens, des "Grenzhaften", was nachhaltig beeindruckend war. Und es blieb die Frage: Klingt so "Sustain"? Oder doch anders?

(nvdw)

Zarte Orgeln und spiritueller Bumms

Die letzten vier CTM-Tage finden für mich vorwiegend ganz bequem sitzend statt – in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und in der Volksbühne. Und auch da zeigt sich wie in den Jahren zuvor: Was an der CTM Spaß macht, ist, dass sie polarisiert.

Die amerikanische Orgel-Drone-Ikone Kali Malone spielt gleich zweimal hintereinander in der proppenvollen und ausverkauften Gedächtniskirche. Zu leise ist's, da sind sich alle einig. Aber die CTM hat eben auch ihre ruhigen Momente. Sustain lautet das Motto, aufrechterhalten zu deutsch – gilt in diesem Falle auch für unsere Trommelfelle. Kali Malone kommt zart und elfengleich daher und genauso zart scheint sie auch die Orgel zu streicheln.

Neverending repetitive Loops werden aus den Orgelpfeifen gehaucht, selbst als sie, zusammen mit Stephen O'Malley (Gitarrist und Komponist etwa bei Bands wie SUNN O))), KTL oder Khanate) das Instrument vierhändig bespielt. Während manche nach zehn Minuten schon weggedöst sind, stehen wiederum andere nach dem Konzert strahlend vor der Kirche, man diskutiert, rauchend, frierend, ob das nun "super boring" oder "krass schön" war, und während die einen weiter ziehen, taumeln andere gemütlich in Richtung Bett.

Aïsha Devi / © Camille Blake
Aïsha Devi / © Camille Blake
Last and First Men / © Camille Blake

Auch das Kino-Tanz-Musik-Theater "Last and First Men" spaltet die Gemüter. Sowohl die Tanzperformance der Neon-Dance-Kompanie und erst recht Film und Musik des 2018 verstorbenen isländischen Komponisten Jóhann Jóhannsson gehen ordentlich unter die Haut. Schwer zu folgen ist der Erzählstimme von Tilda Swinton, die den Film, der auf dem Science-Fiction-Roman 'Last and First Men' des englischen Schriftstellers Olaf Stapledon aus dem Jahr 1930, basiert, hinterlegt. Generell ist es manchmal schwer, sich zu entscheiden, wo man denn nun hingucken soll: auf den Film? Oder die Tänzerinnen? Überladen irgendwie, aber dennoch großartig.

Nachdem am Samstag Felicia Atkinson zusammen mit Jules Reidy und crys cole einen stabilen, aber alles in allem eher wenig überraschenden Abend gestalten, wird das ausverkaufte Abschlusskonzert am Sonntag in der Volksbühne nochmal ein bisschen lauter: Die tschechische Musiker Petra Hermanova sorgt an der Autoharp und vor sakralem Bühnenbild fast schon für Wave-Gotik-Treffen-Vibes. Begleitet wird sie von Schlagzeug und Orgel. Aber wer noch die sanft-virtuosen Klänge einer Kali Malone in den Ohren hat, ist froh, als das fast zehnminütige Orgel-Solo am Ende des Konzerts auch ein Ende findet. 

Den offiziellen CTM-Abschluss bestreitet die Schweizer Musikerin Aïsha Devi mit ihrem spirituell angehauchten Mantra-Pop mit ordentlich Bass und Bumms und einer, wenn auch schüchternen, Ansage, warum sie sich "Strike Germany" nicht angeschlossen habe. Das geht in der noch im Schlussapplaus einsetzenden Aufbruchstimmung des Publikums komplett unter.

(nvm)

Letzter Festivaltag: Hacklab

Was für die allermeisten CTM-Fans das Abschlusskonzert in der Volksbühne ist, also die gefühlsmäßig oft melancholisch besetzte, große, letzte Veranstaltung im Rahmen des Festivals, ist für mich persönlich das Hacklab: die vorletzte, ein wenig kleinere Veranstaltung im Festival-Schedule. Es ist die Chance, junge Newcomer:innen und Künstler:innen zu erleben, die in ihrer Praxis auf Kooperationen und Kollaborationen setzen. Im Radialsystem performen dieses Mal zehn Künstler:innen, die über einen Open Call zusammengebracht wurden und innerhalb einer Woche eine einstündige Performance namens "Sustenance" kreiert haben. 

Die Hosts des diesjährigen Hacklabs sind Sophia Bulgakova und Darsha Hewitt. Sie moderieren den Abend und springen ein, wenn die Technik crasht und erst wieder neu hochgefahren werden muss: "Alles kann funktionieren oder nichts kann funktionieren, das ist das Besondere am Hacklab", sagt Sophia Bulgakova lachend. In mehreren Akten geht es von klassischer Geige und Synthesizern bis zu Autotune-Gesang, den ein alternder Avatar live auf einer Leinwand vorträgt. Es ist die Kombination aus hochsensibler Technik, vielen, vielen Kabeln, Synthesizern, Visuals, einem gewissen DIY-Hybrid-Vibe, ungewöhnlichen Materialien und Geräuschen, was diesen Abend ausmacht.

Hacklab / © Nastassja von der Weiden

Es kratzt, hallt, piepst, es wiederholt sich. Ein stiller Protest durch einen der Teilnehmer umrahmt die musikalischen Akte: Die Person schreibt unablässig auf eine Schriftrolle, während die anderen performen. Der Sound der musikalischen Akteure ist dabei oft an Bewegung gekoppelt, kombiniert mit modernem Tanz und Lichtexperimenten. Es ist weird, es ist aufwühlend, es macht Spaß und es gibt Momente, da will und muss man sich die Ohren zuhalten.

Das Radialsystem ist voll besetzt und eine gespannte, respektvolle Stille herrscht im Publikum. Nur vereinzelt schleichen sich diejenigen raus, die es noch zur Volksbühne schaffen wollen. Ich bin nach diesem Auftritt gesättigt, meine Hände tun weh vom vielen und lauten Klatschen für die jungen Performer:innen – und freue mich über ein erfüllendes, nicht entschlüsseltes Abschlusserlebnis.

25 Jahre CTM Festival

Auf dem Rückweg – es regnet, es ist windig, kalt und dunkel, vier verpasste Anrufe, etliche News-Updates stapeln sich zusammengefächert auf dem Bildschirm meines Handys – denke ich über die vergangenen zehn Tage nach: Bei all dem Horror in der Welt, der Grausamkeit im Außen und Innen, bei der Frage, wie man zukünftig in dieser Welt leben kann, wie man dabei den eigenen und kollektiven Schmerz aushalten und ob man ihn jemals überwinden können wird, löst das CTM-Festival in seiner Gesamtheit und in seinen unterschiedlichsten Fragmenten eine tiefe Demut und Dankbarkeit für die Wirkmacht von experimenteller Musik in mir aus.

Denn: Musik ist nicht die Antwort auf die Probleme und Krisen unserer Zeit. Aber Musik kann uns – vielleicht, hoffentlich – wecken, aus der Lethargie holen, kann in uns hineinschallen und Empathie auslösen, im Hören und miteinander Tanzen, uns etwas empfinden lassen, das an uns herangetragen wird, ohne dass wir Text und Worte brauchen, um eine Verbindung dazu aufzubauen. 

Das Festival besticht seit einem Vierteljahrhundert durch Vielfalt, vereint große Namen mit den interessantesten Newcomer:innen und Wissenschaftler:innen, hat eine konzeptuelle Ausformung einerseits und bietet größtmögliche Überraschung, Freiheit und Kontrast andererseits. Deshalb, bitte: Auf 25 weitere Jahre CTM oder noch mehr – um zu genießen, zu reflektieren, ja, auch um zu bewundern, sich selbst klein in Anbetracht des im besten Sinne Großartigen, was während des Festivals aufgeführt wurde, zu fühlen, um zu diskutieren, sich zusammen zu bewegen; bewusst zu vergessen und für einen anhaltenden Moment zu versöhnen. 

(nvdw)

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