Essentials: Electro

Essentials: Electro

Features. 29. September 2019 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Seit Jahren nun ist von einem grassierenden Electro-Revival die Rede und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Genre zunehmend mehr Aufmerksamkeit erhielt. Warum aber eigentlich? Stein des Anstoßes war vermutlich das umfassende Reissue-Projekt, welches das Label Clone dem Duo Drexciya und den angeschlossenen Projekten von Gerald Donald (alias Arpanet, Heinrich Mueller, Dopplereffekt und so weiter) und dem im Jahr 2002 verstorbenen James Stinson (The Other People Place, vermutlich Elecktroids und so fort) widmete: Vier Compilations mit deren aquafuturistischen Produktionen erschienen zuerst, bevor Labels wie Tresor und Warp nachzogen. Eine neue Generation entdeckte die Musik der beiden, was wiederum ProduzentInnen und DJs mit einem Faible für Electro neue Möglichkeiten eröffnete. 

DJ Stingray beispielsweise, der eng mit den beiden zusammenarbeitete und sie als Tour-DJ begleitete, erlebte eine mehr als wohlverdiente Renaissance. Zugleich gelang es jungen DJs wie Helena Hauff ebenso wie aufstrebenden ProduzentInnen, sich mit Electro einen Namen zu machen – wovon wiederum alte Hasen profitierten: Hauff beispielsweise berichtete, dass der Niederländer Umwelt ihr gegenüber gefrotzelt hätte, dass sie als neues “Postergirl” des Genres auch Aufmerksamkeit auf ihn lenken würde. Ob die Dabeigewesenen und -gebliebenen wie unter anderem Panorama-Bar-Resident Steffi und die Den Haager Ikone I-F oder die Neuzugänge wie Privacy, Delta Funktionen oder der Genre-Rundumerneuerer Objekt: Sie alle erlebten einen enormen Aufschwung und konnten endlich wieder unterkühlten Funk und knallige Backbeats auf den Floor loslassen.

Nur: Was zur Hölle ist eigentlich Electro? So viel über das Genre auch geredet wird, gehen die Definitionen doch auseinander. Das liegt nicht allein daran, dass der Begriff im Mainstream gerne synonym mit jeder Form von elektronischer Tanzmusik verwendet wird oder unglückliche Begriffe wie Electro-House den Bigroom-Diskurs leiten, sondern auch an der langen und sehr vielseitigen Geschichte des Genres. Das nämlich bezieht sich ebenso auf Synth-Pop wie Funk, grenzt an Hip-Hop- und Breakdance-Kultur ebenso, wie es zentral für die Entwicklung von Techno war. Vor allem hat sich Electro immer auch weiterentwickelt, und das in sehr unterschiedliche Richtungen. Oder wo genau findet sich der Zusammenhang zwischen Egyptian Lover und Claro Intelecto? Zwischen funktionalen Breakdance-Tracks und dem futuristischen Scheppern von ‘The Final Frontier’? Oder sogar zwischen The Other People Place und den Elecktroids, Anthony Rother und Miss Kittin & The Hacker oder den Releases auf International Deejay Gigolo Mitte der Nullerjahre?

Unsere Auswahl von sechs essenziellen Old-School-Electro-Tracks verfolgt deswegen nur eine bestimmte Auffassung davon, wie Electro im Austausch zweier Genres entstand, wobei das entscheidende Scharnier die ikonischste Drum Machine aller Zeiten war: die Roland TR-808 mit ihrem schubbernden Subbass, synkopierten Kicks, den peitschenden Snares und krachenden Blechsounds. Die Gleichung lautet also: Maschinenmusik + Funk = Maschinenfunk. Erstmals aufgestellt wurde sie Anfang der achtziger Jahre.

Cybotron – Alleys of Your Mind (1981)

Wenn von Maschinenmusik die Rede ist, muss unweigerlich mit Kraftwerk begonnen werden. Denn das Derrick May zugeschriebene Bonmot, nach welchem Techno das ist, was passieren würde, wenn die Düsseldorfer Exzentriker mit George Clinton in einem Fahrstuhl eingesperrt wären, lässt sich ähnlich auch auf Electro übertragen. Zumindest gehört die Präzisionsarbeit der Menschmaschinen genauso zur stilistischen DNS von Electro wie zu der von Techno. Deutlich wird das im Rückblick auf die Diskografie von Cybotron.

Richard Davis und Juan Atkins fanden sich 1981 in der ‘Motor City’ Detroit zusammen und veröffentlichten noch im selben Jahr mit ‘Alleys of Your Mind’ den ersten Meilenstein des neuen Electro-Genres, der sich deutlich vom europäischen Synth-Pop und der japanischen Band Yellow Magic Orchestra beeinflusst zeigte, deren Arbeit mit der Roland TR-808 stilprägend wurde. Drei Jahre nach ‘Alleys of Your Mind’ lieferten Cybotron mit der Single ‘Techno City’ das Stichwort für das neue Genre, welches Atkins 1985 unter dem Namen Model 500 mit dem Track ‘No UFOs’ endgültig aus der Taufe hob, nachdem es sich bereits in Tracks wie ‘ShareVai’ von A Number of Names – das je nach Erzählung entweder 1981 oder 1982 erstveröffentlicht wurde – angedeutet hatte.

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Afrika Bambaataa – Planet Rock (1982)

Doch nicht nur in der Autostadt Detroit, sondern auch in New York wurde das neue Jahrzehnt mit einem Knall eröffnet. DJs wie Kool Herc legten Mitte der siebziger Jahre den Grundstein für Hip-Hop-Kultur, indem sie die Breaks verschiedener Platten – etwa die der Incredible Bongo Band, James Brown oder der Isley Brothers – an den Plattentellern nahtlos ineinander übergehen ließen, sodass der Beat nicht stoppte. Das ermöglichte einerseits, dass andere ihre Rhymes über die Endlos-Grooves spitten konnten, andererseits entstand so ein neuer Tanzstil, der Breakdance.

Bald schon wurden ähnliche Ansätze im Studio ausprobiert. Afrika Bambaataa ist eine quasi-mystische Gestalt der frühen Hip-Hop-Szene und führte ähnlich wie Cybotron die Musik von Clinton, Brown, Sly & the Family Stone, aber auch New-Wave-Artists wie Gary Numan und Futuristen wie Yellow Magic Orchestra als Stifterfiguren an. Neben dem markanten ‘ichi, ni, san, shi’ (Japanisch für ‘eins, zwei, drei, vier’), das zuvor in YMOs ‘Rap Phenomena’ und Kraftwerks ‘Numbers’ zu hören gewesen war, sollte vor allem das Stück ‘Trans Europa Express’ von den Düsseldorfern zur, äh, Inspiration werden. Genauer gesagt bedienten sich Afrika Bambaataa und Produzent Arthur Baker mehr als großzügig an dessen Melodie. 

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Herbie Hancock – Rockit (1983)

Die Achtziger standen ganz unter dem Eindruck dessen, was der Futurologe Alvin Toffler in einem 1970 erschienenen Buch als ‘Future Shock’ bezeichnet hatte: Plötzlich war die Zukunft angekommen – und was nun? Sowohl in Detroit als auch in New York wurde die neue Zeit mit offenen Armen empfangen. Dasselbe lässt sich allerdings von der Jazz-Szene sagen. Nachdem Miles Davis den Grundstein für den ‘Electric Jazz’ gelegt hatte, folgte ihm Herbie Hancock. Sein 1983 erschienenes Album mit dem Titel, na klar, Future Shock nahm genau jene Elemente in sich auf, die in Detroit und New York den neuen Sound dominierten: Synthesizer, Drum Machine und Scratching kamen vor allem in der von Bill Laswell produzierten Single ‘Rockit’ zusammen.

Die Inspiration dafür lieferten tatsächlich DJ-Sets von Afrika Bambaataa, die Drum Machine allerdings war ausnahmsweise keine 808, sondern eine Oberheim DMX. Insbesondere der Vocoder-Einsatz – seinerseits inspiriert von der im Stück gescratchten Platte Fab Freddy Fives ‘Change the Beat’ – wurde für Electro stilprägend. Mehr noch als Afrika Bambaataas blecherne Vocals auf ‘Planet Rock’ erkundeten sie die rhythmisch-melodiösen Möglichkeiten der Vocoder-Technologie.

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Egyptian Lover – Egypt, Egypt (1984)

Es ist nicht unbedingt schwierig herauszuhören, aus welcher Ecke der frühen Electro-Szene Gregory Broussard aka Egyptian Lover seine Inspiration bezog. Seine Debüt-Single ‘Egypt, Egypt’ wies den Produzenten aus Los Angeles eindeutig als Afrika-Bambaataa-Fan aus. Obwohl Broussard selbst betont, dass dessen Vorlage – Kraftwerk – für ihn nicht von Relevanz waren. Er nennt stattdessen Prince, der Anfang der achtziger Jahre mit seiner Linn-Drum herumexperimentierte, und die Funk-Nummer ‘Something About You’ von Ebonee Webb als Hauptinspiration für das Stück.

So viel zumindest ist sicher: Der Egyptian Lover war ursprünglich Tänzer, der später zum Gelegenheits-DJ und darüber zum Produzenten wurde, der sich das Instrument seiner Wahl – die Roland TR-808 natürlich – kaufte, weil er sie in ‘Planet Rock’ gehört hatte. Zu seinem Trademark machte Broussard aber auch sein ebenfalls von Prince und genauer von dessen Song ‘Controversy’ beeinflusste, unverwechselbarer Sprechgesang, welcher der Dominanz der New Yorker Rap- und Electro-Szene endlich von der Westküste aus einen eigenen Stil entgegensetzte. 

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Tricky Tee – Johnny The Fox (1985)

So breitete sich Electro in verschiedenen Formen über die USA hinweg aus. Doch ein Track im Besonderen sollte auf der anderen Seite des atlantischen Ozeans bei der Entstehung einer ganz anderen Kultur mitbehilflich sein. ‘Johnny the Fox’ des New Yorker Produzenten Tricky Tee ist bahnbrechendes Stück für die spätere Acid-House-Bewegung im UK und legte im Verbund mit vielen anderen ebenso die Grundlage für die Entwicklung von britischem Rap und Hip-Hop. Es ist nur eine der zwei Singles, die Edward Yates unter diesem Pseudonym auf dem Label Sleeping Bag, der Labelheimat von unter anderem Arthur Russell, veröffentlichte, doch war der Erfolg durchschlagend.

Der gemeinsam mit Kurtis ‘Mantronik’ el Khaleel von der Band Mantronix produzierte Breakdance-Track gehörte zu den Aufnahmen, welche britische DJs in den Achtzigern erreichten, bevor die ersten Acid-House-Platten aus Chicago eintrafen. Die Synthese vom Hip-Hop-verwurzelten Electro mit seinen Vocoder-Vocals auf der einen und dem House-Sound der ‘Windy City’ auf der anderen Seite war später deutlich im Werk von Projekten wie KLF zu hören.

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Clarence – Turbine (1991)

Mit dem Aufkommen von House einerseits und der Weiterentwicklung von Hip-Hop andererseits ging es für das sowieso schon schwammig definierte Genre bergab. Vermutlich, weil die regionale Verwurzelung ebenso fehlte wie die dazugehörige Szene – Electro saß in jeglicher Hinsicht zwischen den Stühlen. Zehn Jahre nach Cybotrons ‘Alleys of Your Mind’ allerdings kündigte sich ein erstes Revival an, das natürlich seinen Anfang in der Motor City Detroit nahm. Im Jahr 1991 formierte sich dort bereits die zweite Welle des Techno-Sounds. Underground Resistance, Jeff Mills, Carl Craig und viele weitere standen in den Startlöchern, um das Genre zu erneuern. Die EP 'Hyperspace Sound Lab' wird darüber untergegangen sein, allein weil der Produzent dahinter ein unbekannter war.

Heute gilt es jedoch als gesichert, dass sich hinter dem Pseudonym Clarence ein gewisser James Stinson verbarg, einer der Köpfe hinter Drexciya. Neben den zwei eher klassischen Electro- beziehungsweise Hip-Hop-Tracks ‘Clarence G’s Club’ und ‘Cause I Said It Right’ sind es vor allem ‘Data Transfer’ und ‘Turbine’, die Electro in ein neues Gewand kleideten. Das letzte Stücke lieferte eindeutig die Blaupause für Drexciyas ‘The Countdown Has Begun’. Electro war wieder zu Hause angekommen: in Detroit.

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Essential Clothing - Can't Decide

Was hörst du so für Musik? Eine kleine aber essentielle Frage, die oft als Gesprächsöffner dient und zumeist in langen Gesprächen endet. Denn die Liebe zur Musik ist Ausdruck unserer Persönlichkeit und verbindet uns mit anderen. Aline Piplies und Marvin Uhde nahmen diese Frage als Anlass und gründeten das Modelabel Can't Decide. Die beiden Designer aus Leipzig sind tief verwoben mit der elektronischen Musik und der dazugehörigen Subkultur und arbeiteten unter anderem mit Perel, dem Institut für Zukunft oder dem Nachtidigital Festival. Mit ihren handbestickten Pullovern, T-Shirts und Hoodies kann man die eigene Genrezugehörigkeit und Verbundenheit zur elektronischen Musik nach außen tragen. Techno, Gabber, Ambient oder direkt alles? Well, can't decide! Und deshalb gehört auch der Electro Sweater in unsere Essentials:

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Spotify

Viele der Klassiker, die in unseren Essentials aufgeführt werden, lassen sich aufgrund ihres Alters oder Nischenstatus nur über YouTube finden, daher verwenden wir in unserer Auflistung überwiegend diese Plattform. Um aber auch mobil einen leichten Zugriff zu haben, tragen wir bei Spotify auffindbare Tracks in thematischen Playlists zusammen und ergänzen diese um weitere Beispiele aus dem jeweiligen Genre.

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