Hüma Utku im Interview:  Falsche Versprechen und große Gefühle
© Giorgia Malatrasi

Hüma Utku im Interview: Falsche Versprechen und große Gefühle

Features. 27. Januar 2023 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Nikta Vahid-Moghtada

Das Berliner Festival CTM geht in die 24. Runde und findet vom 27. Januar bis 5. Februar unter dem Motto „Portals” statt. Wieder im Line-up vertreten ist auch Hüma Utku. Die Musikerin, Produzentin und Sound Artist kombiniert analytische Psychologie mit Folklore, politischen Realitäten und Mystik. Das Ergebnis: Ein unverwechselbarer Sound, der Geschichten erzählt. Düstere Drones geprägt von Industrial und Ambient, mal tanzbar, mal ein Wechselbad der Gefühle. Mit ‘Bearers of False Gifts’ legt die in Berlin lebende Künstlerin Hüma Utku nun ein Multichannel-4D-Stück vor, das am ersten Samstag des Festivals (28. Januar) in den MONOM Studios im Funkhaus aufgeführt und anschließend durch 4D-Sound-Galerien weltweit touren wird. Wir haben mit der studierten Psychologin und Künstlerin über ihren Schaffensprozess, Stimmungsschwankungen, Inspiration und Identitäten gesprochen.

DJ LAB: Das diesjährige CTM-Festivalmotto lautet „Portals" – ein ziemlich abstrakter Begriff. Welche Portale wirst du öffnen?

Hüma Utku: Um ehrlich zu sein, habe ich darüber noch gar nicht nachgedacht. (lacht) Das Stück, das ich spiele, heißt ‘Bearers of False Gifts’. Es beschäftigt sich mit den Themen Täuschung, Wahrheit, Ausbeutung, Vertreibung. Ausbeutung in dem Sinne, dass man mit dem Zwiespalt zwischen Täuschung und Wahrheit zu tun hat und von einem Betrüger ausgenutzt wird.

Kannst du mehr über ‘Bearers of False Gifts’ erzählen?

Hüma Utku: Ich wurde gebeten, ein neues Multichannel Piece zu machen. Das Stück wird nach der CTM in verschiedenen 4D-Sound-Galerien auf der ganzen Welt ausgestellt. An dem Stück arbeite ich schon seit 2019, es hat während verschiedener Artist-Residencies und Live-Performances Form angenommen. Jetzt habe ich mich hingesetzt, es erweitert und neu arrangiert. Und was dabei herauskam, ist ziemlich dunkel, enthält viele Field Recordings, viele Höhen und Tiefen. Es lädt dazu ein, in den Sound einzutauchen und dort zu verweilen. Das ist auch Sinn und Zweck des 4D-Sound-Erlebnisses: im Venue zu sein, herumzulaufen, den Klang aus verschiedenen Winkeln zu hören.

Erzählst du eine Geschichte über dich selbst?

Hüma Utku: Nein, ganz und gar nicht. Ich würde zwar sagen, die meisten meiner Arbeiten sind irgendwie persönliche Geschichten. Aber ich habe einen doppelten Ansatz. Es gibt Dinge, die mich inspirieren, aber was ich immer betone, ist, wie diese Themen uns alle in einem größeren Rahmen betreffen. Im Fall von ‘Bearers of False Gifts’ spreche ich von einer Situation, die so weitreichend ist, dass sie, denke ich, jede einzelne Regierung oder Person übertrifft. Es geht um die Art und Weise, wie wir regiert werden, die Systeme, die wir aufgebaut haben, die Machtstrukturen, das Verständnis von Erfolg, die Art und Weise, wie wir unser Leben leben sollten, wie wir unser tägliches Leben führen sollten. Ich denke, all das basiert in hohem Maße auf Täuschung.

Du bist in der Türkei geboren und aufgewachsen und lebst seit bereits elf Jahren in Berlin. Du kennst also zwei unterschiedliche politische Systeme ziemlich gut. Wie wirkt sich das auf deine Musik aus?

Hüma Utku: Ich würde gar nicht sagen, dass die Systeme komplett unterschiedlich sind. Ich denke, wenn man die nicht funktionierenden Seiten von zwei verschiedenen Orten sieht, merkt man, dass sie sich gar nicht so sehr voneinander unterscheiden. Jeder Ort auf der Welt hat seinen eigenen Schatten. Vielleicht ist es einfacher, jetzt hier in Berlin zu sein und auf die Türkei zu blicken und zu sagen: Dieses oder jenes läuft falsch. Aber ich habe auch meine Erfahrungen in Berlin gemacht als ein Mensch, der sich die längste Zeit nicht willkommen fühlen konnte.

Als Mensch mit einem (wunderschönen!) Namen wie deinem bekommt man in Deutschland schnell einen Stempel aufgedrückt.

Hüma Utku: Ich glaube, wir alle haben mehrere Identitäten: Die offensichtlichen Identitäten, also das, wie die Leute dich wahrnehmen, wenn sie dich ansehen. Aber ich lege diese offensichtlichen Identitäten beiseite. Dass du ein Großmaul bist, kann für den einen ein Problem sein, für andere wiederum nicht; dass du ein Wahrheitsverkünder bist, kann ein Problem sein, oder dass du ein Wahrheitssucher bist, dass du authentisch bist, dass du dich keiner Person mit vermeintlicher Macht beugst … Ich will meine Erfahrungen nicht auf vereinfachte Identitäten wie Nationalitäten oder Herkunft herunterbrechen. Ich habe gelernt, mich den Schattenseiten aller möglichen Situationen zu stellen.

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Vielleicht ist es das, was dein Werk und das CTM-Motto „Portale" verbindet?

Hüma Utku: Siehst du, ich wusste, dass es irgendwann einen Zusammenhang geben würde.

Du hast Psychologie studiert. In einem anderen Interview hast du erwähnt, dass sowohl die Neuropsychologie als auch die Gestaltpsychologie deine Arbeiten inspiriert haben. Kannst du mir ein bisschen mehr darüber erzählen? Wie überträgst du analytische Psychologie in einen Sound?

Hüma Utku: Ich kann versuchen, es am Beispiel von ‘The Psychologist’ zu erklären. Für mich beginnt es mit einer ersten Idee und Inspiration, und dann stelle ich mir vor, wie es klingen würde. Es gibt diesen einen langen Track auf dem Album, ‘Rüya (Şimdiki Zaman Kipinde)’, das bedeutet „Traum in der Gegenwart”. In der Gestaltpsychologie spricht man bei der Traumarbeit immer in der Gegenwartsform über den Traum. In diesem Stück gibt es Vocals: Ich erzähle einen Traum, den ich tatsächlich hatte, in der Gegenwartsform.

Für mich bist du eine Geschichtenerzählerin – alle deine Releases erzählen Geschichten, die Songs sind wie Kapitel, die man nicht in einer anderen Reihe lesen kann, weil sonst der Sinn verloren geht. Wenn du produzierst, hast du dann schon diese bestimmte Reihenfolge im Kopf?

Hüma Utku: Ja, wenn ich produziere, produziere ich genau in der Reihenfolge, in der man das Album letztlich auch hört. Der erste Schritt zu einem neuen Projekt ist immer: Was ist das Thema, wie will ich es klingen lassen? Bei ‘Gnosis’ ist der erste Track ‘Vulnerary’. Es ist ein wirklich nebliger, intensiver, aber einladender Ambient-Track, der perfekt ins Album führt. ‘Fuels for the Flames’ auf ‘The Psychologist’ hingegen ist eine richtig große Ouvertüre und deutet schon die Höhen und Tiefen des Albums an. Es hängt davon ab, wie ich den Hörer begrüßen möchte. Sie treten in eine Welt ein und müssen dem Weg folgen.

Welche Ziele verfolgst du, wenn du live spielst? Wie holst du die Zuschauer:innen in diese Welt?

Hüma Utku: Das Live-Set von ‘The Psychologist’ zum Beispiel habe ich stellenweise versucht, einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Wenn ich live spiele, sehe ich das als eine Art Erfahrung oder Ritual. ‘The Psychologist’ ist ein bisschen psychotisch, würde ich sagen. Die Klangpalette ist sehr dynamisch, es gibt diese wirklich dunklen Momente, aber auch wirklich helle Momente. Perfekt, um sich zu Hause auf das Album einzulassen. Aber ich habe das Gefühl, dass ich das Publikum verlieren würde, wenn ich diese Intensität in ein Live-Set einbringe. Also habe ich das Material so arrangiert, dass eine Gruppe von Leuten zuhören und es genießen und dennoch die Tiefe des Materials spüren und in Trance geraten kann.

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Deine musikalische Karriere begann, als du mit 14 Jahren Klavierspielen gelernt hast. Wann und wie bist du mit elektronischer Musik in Berührung gekommen?

Hüma Utku: Ich habe Klavierunterricht genommen, ja, aber ich habe nicht unbedingt diese grandiose Ausbildung. Genug, um ein Verständnis für Komposition, Klang und Noten zu haben. Aber das meiste von dem, was du hörst, habe ich mir selbst beigebracht. Früher habe ich viel Rock und Metal, später aber auch Industrial gehört. Ich habe mich gegen Ende meiner Teenagerzeit sehr für Musikproduktion interessiert. Dann habe ich begonnen, mit Samples und so weiter herumzuspielen. Meine ersten Kompositionen habe ich mit Garage Band begonnen, das ist das beste Programm, wirklich (lacht). Und dann habe ich angefangen, mehr zu lernen, mit Programmen wie Reason und Cubase, die ich mir als Raubkopien in Istanbuls sketchy Untergrundpassagen besorgen musste.

Während ‘Gnosis’ einen etwas leichteren Ton hatte, wirkt ‘The Psychologist’ wieder dunkler, unheimlicher, ein bisschen mehr wie deine erste EP ‘Seb-i Yelda’. Wie würdest du deine Entwicklung zwischen diesen Veröffentlichungen beschreiben?

Hüma Utku: ‘Seb-i Yelda’ ist ein sehr politisches Werk. Der Begriff kommt aus dem persischen Kulturraum und bedeutet „die längste Nacht”. Auf der EP geht es um die Dualität von Nacht und Tag, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, Wut und die Aussicht auf Glückseligkeit. Sie beschreibt dieses Gefühl einer langen Nacht, die einfach nicht enden will. Diese Dunkelheit wollte ich transportieren. Mit ‘Gnosis’ bin ich als Geschichtenerzählerin gewachsen, auch meine technischen Kenntnisse wurden besser. Es geht um das Wissen um Frieden, Glückseligkeit sowie spirituelles Wissen und Mystik. Es ist absolut unpolitisch, fühlt sich leichter an und hat nicht dieses starke Auf und Ab der Gefühle. Komischerweise hatte ich eine furchtbar harte Zeit, als ich ‘Gnosis’ produziert habe. Mit ‘The Psychologist’ wurde mein technisches Wissen wieder ein klein wenig besser. Und mir ging es richtig gut in der Zeit, in der das Album entstanden ist. Ich hatte ein mentales und emotionales Sicherheitsnetz, sodass es mir bei der Arbeit an der Musik leichter fiel, mich nicht völlig im Chaos zu verlieren.

Du bist vor 11 Jahren nach Berlin gezogen. Welchen Einfluss hatte der Umzug auf deine Entwicklung als Künstlerin?

Hüma Utku: Ich bin viel mutiger geworden, ich habe viele verschiedene Sounds und Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt kennengelernt. Dadurch bekam ich ein breiteres Spektrum dessen, was in der Welt der experimentellen Musik und der elektronischen Musik im Allgemeinen vor sich geht. Ich hatte das Gefühl, dass Experimente willkommen sind, dass Individualität willkommen ist. Ich glaube aber auch, dass das Berliner Publikum eines der härtesten ist, weil es schon alles gesehen hat. Man muss also authentisch sein und etwas anderes und Neues machen, um akzeptiert zu werden. Das treibt einen an, besser zu werden.

Und zu guter Letzt: Was passiert nach der CTM, was sind deine Pläne für 2023?

Hüma Utku: Nach der CTM werde ich sehr konzentriert an einer Installation in Wien arbeiten. Ich habe mich mit einer befreundeten Künstlerin zusammengetan, sie heißt Fara Peluso. Ihre Arbeiten und Installationen sind inspiriert von Biologie und Algen. Darauf folgen einige Ausstellungen, außerdem werde ich dieses Jahr viel auf Tour sein. Und ich würde gerne an einem neuen Album arbeiten. Das Thema steht fest: Verwirrung. Achtung, Sarkasmus!

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