Jeff Mills & Jean-Phi Dary: “Du redest, bis du nichts mehr zu sagen hast!”
© Jacob Khrist

Jeff Mills & Jean-Phi Dary: “Du redest, bis du nichts mehr zu sagen hast!”

Features. 21. Februar 2021 | 5,0 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Widersprüche ziehen sich an, oder wie war das noch gleich? Jeff Mills und Jean-Phi Dary verstehen sich zumindest blendend, obwohl sie ihr gemeinsames Projekt 'The Paradox' getauft haben. Und dass der Titel ihres Debütalbums ‘Counter Active’ lautet, ist als Ansage an starre Konventionen zu verstehen, erklären sie hier im Interview.

Jean-Phi Dary und Jeff Mills freuen sich, mal wieder miteinander sprechen zu können, wenn auch über die Distanz. Der eine sitzt umgeben von Equipment in seinem Kellerstudio in Paris, wo er nach jahrzehntelanger Karriere als Live- und Session-Musiker an neuem Solo-Material bastelt, der andere am Schreibtisch in Miami, wo gerade der Vormittag anbricht. So viel sie auf den ersten Blick unterscheidet, so merklich gut ist die Chemie zwischen den beiden. Unter dem Namen 'The Paradox' legen sie nun ihr Debütalbum ‘Counter Active’ vor. Entstanden ist es in der französischen Hauptstadt während langer improvisierter Sessions zwischen dem Multiinstrumentalisten und der Techno-Legende, die sich über ihre gemeinsame Arbeit mit der kürzlich verstorbenen Afrobeat-Legende Tony Allen kennengelernt hatten. Gemischt wurde es wie dieses Gespräch: über die Distanz hinweg, weil es die Pandemie nicht anders zuließ.

DJ LAB: Ist es notwendig, sich persönlich gut zu verstehen, um miteinander Musik zu machen?

Jean-Phi: Ich denke schon, dass es wichtig ist! Diese Form von Musik braucht das. Du spielst für den anderen, man muss miteinander grooven und sich einander annähern, damit es klappt. Wenn du spielst, dann verschwindet ein Teil deines Egos. Der schlechte zumindest. Ein bisschen Ego brauchen wir in jedem Fall, um Musik zu machen.

Jeff: Du musst wissen, wie du dich in einem Team positionieren musst. Du musst Kompromisse schließen können, musst andere dirigieren können, musst die richtige Art der Kommunikation finden, ohne dabei jemandem zu nahe zu treten. Es geht darum, sich auf bestimmte Themen und Ideen zu einigen und sie von verschiedenen Perspektiven aus zu betrachten. Wenn du die Scheuklappen aufsetzt und dich neuen Ideen gegenüber versperrst, wird’s in diesem Business schwierig. Es braucht ein großes Maß an Ehrlichkeit. Wenn du etwas erreichen willst, dann musst dir darüber im Klaren sein, wie genau dein Beitrag dazu aussieht. Du musst dir über deine Beschränkungen im Klaren sein und sie offen kommunizieren.

Jean-Phi: Ganz genau. Ihr müsst euch darüber verständigen, worüber ihr eigentlich sprecht. Und es euch notfalls eingestehen, wenn ihr etwas nicht versteht.

Jeff: Für dieses Album wussten wir ganz genau, wie das Ziel aussah – nur der Weg dahin und was wir spielen würden, das wussten wir nicht.

Euer Projekt nennt ihr allerdings 'The Paradox', das Album heißt ‘Counter Active’ (hier gehts zur Review). Das impliziert ein Miteinander, aber auch Unterschiede, sogar Widerspruch. Woher kommt das?

Jean-Phi: Ich glaube, wir alle denken auf zwei verschiedene Arten und Weisen über die Dinge nach und tragen also bereits ein Paradox in uns. Manchmal will ich schnell spielen, obwohl es in dem Moment besser wäre, nach dem Gefühl zu gehen und ein paar leichte Akkorde anzuschlagen. Doch dann meldet sich mein Ego und ich habe Bock darauf, anzugeben! Das ist das Paradox, der Anfang von allem.

Und woher kommt der Begriff ‘Counter Active’?

Jeff: Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Jean-Phi in einem Café in Paris, wir machten gerade eine Pause zwischen den Aufnahmen. Wir überlegten, was ein guter Titel wäre. Er bezieht sich auf die Erfahrungen, die wir als Musiker gesammelt haben. Das Musikgeschäft kann ein sehr interessantes sein. Es ist für dich ein langer und kontinuierlicher Lernprozess. Dazu braucht es manchmal einen strategischen und ausgeklügelten Plan, um die Aufmerksamkeit deines Publikums auf dich zu ziehen oder etwas zu beweisen. Wir waren der festen Überzeugung, dass wir miteinander dieses Album machen sollten, um “counteractive” zu sein und dem etwas entgegenzusetzen. Wir wollten uns die größtmöglichen Freiheiten nehmen. Denn das, fanden wir beide, fehlte zu dieser Zeit im Musikgeschäft.

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Ganz konkret gesprochen: Wie lief das ab? Du hast deine TR-909 in Jean-Phis Studio geschleppt … Und was dann? 

Jeff: Wir haben schon vorher mit Tony und unserer gemeinsamen Tour miteinander gearbeitet und hatten schon eine Idee davon, welche Maschinen und Instrumente wir verwenden wollten. Wir schlossen sie also an und … starrten einander an. (lacht) Bis dann jemand “Let’s go” sagte und wir loslegten. Dann führte eins zum anderen und zum nächsten und wieder zu etwas anderem. Die Songs nahmen graduell Form an. Das war eine Art von Magie.

Jean-Phi: Ganz genau das war es! Auf der Tour mit Tony war er meistens während des Soundchecks nicht anwesend. Und dann spielte ich einfach aus dem Moment heraus eine Bassline und Jeff baute einen Beat dazu. Eigentlich ging es nur darum, den Sound zu prüfen. Uns wurde aber klar, dass es mehr als das war. Weshalb wir diese Momente aufnehmen wollten.

Jeff: Wir haben uns darüber verständigt, womit wir gerne starten würden und uns auf eine ungefähre Ausrichtung geeinigt. Fusion Jazz aus 1973, das Montréal Jazz Festival, alles mögliche. Ob das Resultat dem gerecht wurde, spielte dabei keine Rolle. Es ging lediglich darum, einen Anfang zu finden. Der Track 'X Factor' entstand aus einem Gespräch über Thelonious Monk. Ich meinte: “Es wäre doch toll, wenn wir Akkordfolgen wie bei Monk hätten!” Und ich habe versucht, das auf meine Drummachine zu übertragen.

Jean-Phi: Der Trick für mich war dabei, nicht wie Thelonious Monk zu spielen – das wäre unmöglich –, sondern stattdessen zu versuchen, mir vorzustellen, wie Monk gedacht hat. Eine Kopie sollte es nicht sein, es ging um den Vibe. Leicht war es nicht! (lacht)

Trotz ihrer sehr spontanen Entstehungsgeschichte werden die Tracks im Pressetext als “Kompositionen” bezeichnet. Die Verwendung dieses Begriffs fand ich bemerkenswert. Versteht ihr sie als solche?

Jeff: Auf jeden Fall.

Dann müsst ihr jetzt aber erklären, was der Unterschied zwischen einer Komposition und einer Improvisation ist.

Jean-Phi: (lacht) Für mich ist das dasselbe! Chopin, Bach, all diese großen Komponisten waren Improvisateure! Für mich ist die beste Form von Komposition, wenn die Ausgangsidee aus dem Nichts aufploppt. Nur wenn der Vibe nicht aufkommt, dann musst du auf die Harmonielehre und all den anderen Kram zurückgreifen, den ich als Lehrer unterrichte. (lacht) Für mich aber ist es ein mechanischer Prozess. Es sollte ein spiritueller sein.

Jeff: Genau! Treten wir einen Schritt zurück und schauen uns an, wie Musik im Allgemeinen strukturiert ist. Jean-Phi hat Recht: Du erschaffst etwas aus dem Nichts. Wie das Gestalt annimmt, stützt sich darauf, wie Geschichten geschrieben werden. Ein Intro ist genauso wie die ersten Sätze eines Buchs, die erste Strophe gleicht dem ersten Kapitel, die Bridge stellt einen Übergang zum nächsten Teil dar und der Refrain repräsentiert den Höhepunkt einer Erzählung oder eines Tracks. Wie Musik strukturiert wird, geht auf uralte Formen des Geschichtenerzählens zurück. Wenn Keith Jarrett aus dem Kopf heraus 17 Stunden spielt, dann kommt das wohl der Komposition von Musik in ihrer natürlichsten Form am nächsten. (lacht) Aber wenn du jemandem etwas durch Musik ausdrücken möchtest und willst, dass sie es immer und immer wieder hören, ergibt es mehr Sinn, das auf eine Art zu strukturieren, die leichter zu verstehen ist.

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Du hast vorhin von einem gemeinsamen Ziel gesprochen, auf das ihr euch vor den Aufnahmen einigen konntet. Welches war das?

Jeff: Ich erinnere mich noch genau an unsere erste gemeinsame Session: Wir haben uns eine Dreiviertelstunde lang unterhalten und dann abrupt abgebrochen, um aufzunehmen. Fünf, sechs Minuten lang, bis wieder Schluss war und wir uns eine Pause gönnten, in der wir weiterredeten. Und zwar über alles Mögliche! Dasselbe war schon während der Proben mit Tony passiert. Das hat meiner Meinung nach einen großen Einfluss darauf, wie wir mit der Musik umgegangen sind, denn eigentlich haben wir lediglich das Gespräch fortgeführt – wenn auch in einer anderen Sprache.

Jean-Phi: Ich hatte das Glück, über sehr viele Jahre hinweg mit Tony zu arbeiten. Einmal waren wir in Lagos. Die Proben kamen einer großen Familienfeier gleich: Die Gespräche drehten sich ums Leben, um Politik, den neuesten Hit. Solange jedenfalls, bis jemand vom Tisch aufstand, sich einen Bass schnappte und zu spielen begann. Und dann stießen alle dazu. Es ist nicht so, als würden wir Musik leben. Vielmehr ist Musik ein Teil unseres Lebens.

Jeff: Um spontan zu improvisieren, brauchst du bestimmte Werkzeuge – und deine Vorstellungskraft ist eins davon. Du musst ein schneller Denker sein, um eine Idee in Echtzeit umsetzen zu können. Du musst Veränderungen antizipieren und wie du dorthin kommst. So als würdest im Weltall nach dem Weg suchen – es gibt keine Straßen, keine Wegweiser. Das ist Musik: Du hast keine Ahnung, ob das, was du gerade machst, auf Anklang stoßen wird, ob es richtig ist, ob es gut klingt. Es geht allein darum, wie du dich in diesem Moment fühlst.

Ich gehe mal davon aus, dass ihr sehr viel Material aufgenommen habt. Wann war ein Track in euren Ohren fertig?

Jeff: Genau wie bei einem Gespräch: Du redest solange, bis du nichts mehr zu sagen hast!

Wolltet ihr die Stücke denn auch live aufführen? 

Jean-Phi: Natürlich! Es ist Live-Musik, Improvisation. Es braucht den Vibe zwischen dem Publikum und Jeff und mir auf der Bühne. Gerade geht es darum, Verbindungen zwischen den Menschen aufzubauen. Im Lockdown zeigt sich, wie sehr wir alle Musik lieben. Aber niemand kann den ganzen Tag über immer nur denselben Kram hören. Es ist Zeit für etwas Neues! So war’s ja auch mit Mozart. Als der ankam, schrien alle rum: “Warum machst du alles anders als zuvor!?”. Jeff und ich möchten ebenfalls einen Vorschlag für eine neue Art von Musik vorbringen.

Jeff: In musikalischer Hinsicht ist diese Welt gerade ein sehr spannender Ort. Im Grunde befinden wir uns noch am Beginn dieses Jahrhunderts. Alles verändert sich, überall. Manchmal ist es notwendig, dass neue Ideen vorgestellt werden. Wenn wir damit aufhören würden, neue Situationen zu erschaffen oder neue Wege für Musik zu eröffnen, dann würde sich die Musikindustrie irgendwann selbst zerfleischen und es würde immer schwieriger werden, Fortschritt anzustoßen. Wir dachten uns, dass das Timing für dieses Album richtig war. Aktuell fühlt es sich so an, als ob alle Ideen ihre Gültigkeit verlieren und Künstler*innen damit aufgehört haben, neue Territorien und neuen Boden zu erforschen. Als hätte Technologie alles weggewischt. Ich aber glaube: Wir müssen dieser Annahme etwas mit Musik entgegensetzen. Das ist gerade in dieser Zeit extrem wichtig.

Jazz und Techno sind schließlich auch zwei Genres, in denen es schon immer viel um die Zukunft ging. Obwohl selbst eine Platte wie ‘The Shape of Jazz to Come’ über fünfzig Jahre auf dem Buckel hat.

Jean-Phi: Aber immer noch ein monumentales Album!

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Natürlich. Doch würde ich sagen, dass Genres immer auf einen Stillstand zugehen – innerhalb von festgesetzten Koordinaten ist nicht unendlich viel Innovation möglich. Euer Vorschlag, wie du es nennst, zielt aber auf einen Fortschritt ab, der aus dem Miteinander von beidem besteht.

Jeff: Wir können nur über das reden, was wir selbst sehen und sprechen dabei aber über eine riesige Gemeinschaft von Musiker*innen, die unaufhörlich Musik machen und mittels Musik auf Erkundungstouren gehen. Wir sollten jedoch in Zukunft ein besseres Gespür für all das entwickeln, was wirklich einzigartig ist. Vor hundert Jahren tauchten Surrealismus und Art Déco auf, als der Erste Weltkrieg endlich vorüber war und alle neu mit dem Leben beginnen wollten. Die Kunst ermöglichte es mit ihren Ideen, zu einem anderen Denken zu kommen. An einem ähnlichen Punkt befinden wir uns.

Auch weil auf den Ersten Weltkrieg eine Pandemie folgte!

Jean-Phi: Das muss doch etwas bedeuten! Gesundheit, Körper, Geist – das ist alles miteinander verbunden.

Jeff: Andererseits ist es schon traurig, wie berechenbar die Menschheit ist. (lacht) Du kannst unsere nächsten Schritte aus dem ableiten, was wir in der Vergangenheit getan haben. Vor hundert Jahren herrschten ebenfalls anarchische Zustände – Politiker*innen wurden bedroht, belästigt, ermordet. Wir sind berechenbare Tiere! Vor hundert Jahren begannen die Menschen damit, anders über die Welt zu denken, weil sie sich eine andere Perspektive für die Zukunft wünschten. Ein Projekt wie unseres passt in diese Zeit, denke ich. Besonders in der elektronischen Musik, in der wir Wege finden müssen, Musiker*Innen mit einzubeziehen. Ein Instrument zu beherrschen, es sogar gemeistert zu haben, ist in dieser Industrie eine Seltenheit. Das ist merkwürdig. Ich bin dafür bekannt, die 909 zu spielen. Es gibt aber nicht viele andere, die beispielsweise mit der TB-303, der TR-808 oder dem Oberheim in Verbindung gebracht werden. Da gibt es noch einiges zu tun.

Es wird noch ein zweites Album von The Paradox geben. Was könnt ihr darüber bereits erzählen?

Jeff: Wir haben eine ganze Menge Tracks geschrieben. Ungefähr die Hälfte ist auf ‘Counter Active’ zu hören, der Rest folgt bald. Noch sind nicht alle gemixt, das passiert aber bald.

Veröffentlicht in Features und getaggt mit Album , Counter Active , Interview , Jean-Phi Dary , Jeff Mills , The Paradox , Thelonious Monk , Tony Allen

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