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Buch-Essentials: Autobiographien aus der Clubszene

Buch-Essentials: Autobiographien aus der Clubszene

Features. 11. April 2020 | / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Ob Standardwerke, Belletristik, Fotobücher oder Techno Autobiographie: Unsere Essentials-Serie stellt die wichtigsten Bücher rund um Techno, House und DJing vor. Übrigens: Wir haben in diesem Artikel so oft es geht Affiliate-Links zum Buchhandel Buch7 eingefügt. Buch7 spendet 75% des Gewinns an soziale, kulturelle oder ökologische Einrichtungen und bietet gleichzeitig alle gewohnten Annehmlichkeiten großer Versandhandel wie Amazon und Co. Informationen dazu bekommt ihr hier.

„Was ist das für ein Typ? Oder auch: Wie ist die denn eigentlich drauf?“ – So definiert Diedrich Diederichsen in seinem Mammutwerk 'Über Pop-Musik' die „Pop-Musik-Frage“ überhaupt. Soll heißen: Das Publikum will immer auch wissen, welche private Person hinter der öffentlichen Persona steckt. Wie war David Bowie drauf, wenn er sich nach dem Konzert abschminkte? Was treibt Billie Eilish an einem Tag ohne Interview-Termine und sonstige Star-Verpflichtungen? Und wie hängt das bitteschön mit ihrer Kunst zusammen? Pop-Fans sind von solchen scheinbar banalen Fragen besessen.

Techno, House und Dance Music stellen seit jeher einen Spezialfall im weiten Feld der Pop-Kultur dar, weil sie eigentlich dem Personenkult des Mainstreams ein Gefühl der Gemeinschaftlichkeit entgegensetzen wollten. Das Ego sollte bitteschön an der Garderobe abgegeben werden. Während der Disco-Ära standen die Partys und nicht etwa die DJs im Vordergrund, die Chicagoer House-Szene scherte sich ursprünglich herzlich wenig um urheberrechtliche Fragen und mit Underground Resistance formulierte die zweite Welle des Detroit Techno eine neue Direktive: faceless und dementsprechend anonym sollten Musik und die Menschen dahinter sein.

Doch wurde selbst Techno nach über drei Jahrzehnten vom Mainstream und damit den Mechanismen der Pop-Kultur assimiliert. Immer mehr Figuren aus der Rave-Szene plaudern ausgiebig aus dem Nähkästchen, und das sogar im Langformat: Moby, Tricky, Goldie, Karl Hyde, Peter Hook von Joy Division und New Order, Diplo, das ehemalige Kraftwerk-Mitglied Karl Bartos und noch viele andere international bekannte und über den Underground hinaus erfolgreiche Musiker – wieder einmal sind es vor allem Männer, die durch ihren Rededrang auffallen – haben in den vergangenen Jahren ihre Memoiren vorgelegt. Wie es eben unvermeidlich wird, wenn DJs zu Superstars werden: Sie wollen allen erzählen, was sie für Typen sind und wie sie eigentlich drauf sind.

Unsere Zusammenstellung von essenziellen Autobiographien aus dem Bereich der Clubkultur soll aber mehr bieten als die bloße Bauchpinselei in Buchform. Diese sechs Bücher liefern über die persönlichen Berichte ihrer VerfasserInnen hinaus ein paar wichtige Einsichten in ihr Schaffen, (musik-)historische Schlüsselmomente und (sub-)kulturelle Bewegungen.

Elektroschock – Die Geschichte der elektronischen Tanzmusik (2003) von Laurent Garnier

Laurent Garnier ist in zweierlei Hinsicht mehr als befugt dazu, aus subjektiver Perspektive über „die Geschichte der elektronischen Tanzmusik“ zu schreiben, wie es im Untertitel seiner im Jahr 2003 erstveröffentlichten Rave-Memoiren heißt. Zum einen ist der Franzose von Anfang an Teil der Szene gewesen, hat sie als DJ wie auch als Produzent von Hits wie 'The Man with the Red Face' oder 'Crispy Bacon' sowie als Labelmitbetreiber von F Communications maßgeblich mitgeprägt. Zum anderen ist er schlicht ein guter Erzähler, wie Elektroschock beweist.

Techno Autobiographie: Laurent Garnier mit Elektroschock.

Das großformatige Buch in schmucker Pseudo-White-Label-Optik versammelt Anekdoten aus dem wilden Tourleben Garniers, die er dem Journalisten David Brun-Lambert berichtet hat. Zugleich speist es sich aber ebenso aus Interviews mit Szenegrößen wie Jeff Mills oder „Mad“ Mike Banks von Underground Resistance. Der Szene Detroits wird ein ausgiebiges Kapitel des Buches gewidmet, das aus dem Französischen mittlerweile auch ins Deutsche, Spanische und zuletzt ins Englische übersetzt wurde.

Es ging Garnier selbst im Rahmen seiner Autobiographie offenkundig nicht darum, sich in den Vordergrund zu schieben. Dementsprechend ist allerdings auch nicht alles, was der DJ damals nach 16 Jahren Vollzeit-Rave zu berichten hatte, positiv: 'Elektroschock' berichtet auch von den Schattenseiten des Nachtlebens, ob in persönlicher Hinsicht oder bezüglich der zunehmenden Kommerzialisierung einer weltweiten Bewegung, an deren Spitze Garnier von Anfang an stand – und das immer noch tut, weshalb seine Memoiren kaum an Aktualität eingebüßt haben.

Laurent Garnier
Elektroschock – Die Geschichte der elektronischen Tanzmusik
296 Seiten
Ca. 24,90 €
ISBN: 978-3-854-45252-2
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House Music… The Real Story (2007) von Jesse Saunders

Wenn schon Garniers Rolle in der Szene mit einer entsprechenden Verantwortung für ihren Verfasser einhergeht, was soll dann Jesse Saunders sagen? Der nämlich ist auch unter dem Namen „The Originator of House Music“ bekannt und hat in Chicago seit 1997 seinen eigenen Feiertag, wenngleich er ihn mit anderen teilt: „Jesse Saunders and the Pioneers of House Music Day“ wird jedes Jahr am 17. Juli gefeiert. Keine leichte Bürde, die der DJ aber im Jahr 2007 zu schultern schien: 'House Music… The Real Story' lautete der Titel des Buches, das er gemeinsam mit James Cummins verfasst hat.

House Music… The Real Story von Jesse Saunders.

'House Music' beginnt mit einer knackigen Definition des Originators, der mit Singles wie 'On & On' und 'Fantasy' sowie seinem Label Jes Say Records die ersten Grundsteine dafür legte, dass DJs plötzlich auch als MusikerInnen wahrgenommen werden konnten: Bei House handele es sich um einen „unablässigen Beat, der die Stimmung am Laufen hält“ einerseits, in nicht-musikalischer Hinsicht andererseits um „ein Gefühl“. Alles klar, und wie weiter? Von Anfang an natürlich: Saunders rollt seinen Werdegang als DJ und später Produzent minutiös auf, berichtet von seinen ersten Abenden hinter den Decks und den Nächten im musikalischen Schmelztiegel des Chicagoer Warehouse, bald aber auch schon vom internationalen Mainstream-Erfolg. Anhand seiner eigenen wird die Geschichte eines Genres nacherzählt.

Wie so häufig ist bei alten Recken während des Lesens kritische Distanz geboten, und dennoch: 'House Music… The Real Story' bietet mindestens einen Einblick in die Hirnwindungen einer unbestrittenen Legende der House-Geschichtsschreibung.

Jesse Saunders
House Music… The Real Story
173 Seiten
Ca. 15 €
ISBN: 978-1-604-74001-1
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Die Nacht ist Leben (2014) von Sven Marquardt

Apropos Legende: Auch Sven Marquardt hat diesen Status inne, obwohl sich sein Beitrag zur Szene weder in der Anzahl von DJ-Sets noch in Produktions-Credits messen lässt. Sondern einzig in einem schweigsamen Nicken einerseits und dem höflichen (Halb-)Satz „Heute leider nicht“ andererseits. Vom Studio 54 hin zur Bar 25 hatte die Clubkultur schon immer exaltierte TürsteherInnen vorzuweisen, dermaßen populär wie Marquardt allerdings ist niemand sonst geworden. Was eben auch an dem Club liegt, vor dessen Tür er Wochenende für Wochenende seine Schichten schiebt: Das Berghain ist der wohl bekannteste, in jedem Fall aber umstrittenste Club der Welt – berüchtigt unter anderem für seine harsche Türpolitik.

Techno Autobiographie: Die Nacht ist Leben von Sven Marquardt.

Ein bisschen geht es deswegen auch in Marquardts gemeinsam mit der Journalistin Judka Strittmatter verfassten Autobiographie 'Die Nacht ist Leben' darum, wie sich das anstellen lässt: reinkommen. Die ernüchternde Antwort lässt sich grob gesagt so paraphrasieren: Ein Geheimrezept gibt es nicht. Grund genug für viele, das Büchlein entmutigt zuzuklappen und als Gimmick aus dem Mythenmarkt rund ums Berghain abzutun. Doch hat Marquardt, der schwule Ex-Punk aus Ostberlin, der sich erst als Fotograf und schließlich mehr oder minder zufälliger Türsteher in der Berliner Techno-Szene der neunziger Jahre durchschlägt, tatsächlich die eine oder andere interessante Anekdote aus einem mehr als bewegten Leben zu bieten. Das allein macht 'Die Nacht ist Leben' zu einer kurzweiligen Lektüre.

Sven Marquardt
Die Nacht ist Leben
224 Seiten
14,99 €
ISBN: 978-3-864-93025-6
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Die Macht der Nacht (2015) von Westbam

Wer übrigens denkt, dass ein käsigerer Titel als 'Die Nacht ist Leben' nicht möglich wäre, wurde nur ein Jahr später eines Besseren belehrt: Unter dem Titel 'Die Macht der Nacht' erinnerte sich ein gewisser Maximilian Lenz an seine Anfangstage an den Decks und die Hochphasen des Techno-Zirkus. Warum das überhaupt jemanden interessierte? Weil dieser gewisse Lenz besser als WestBam bekannt ist und eine der führenden Figuren der frühen Berliner und später auch deutschlandweiten Szene war oder sogar, das mag Ansichtssache sein, immer noch ist.

Techno Autobiographie: Die Macht der Nacht von Westbam.

'Die Macht der Nacht' verfolgt die Geschichte eines Musikbesessenen nach, der Anfang der achtziger Jahre das verschlafene Münster gegen die geteilte Hauptstadt eintauscht und dementsprechend wenige Jahre später seine Stunde kommen sieht: WestBam wird ein Rädelsführer der auf dem Dancefloor stattfindenden Wiedervereinigung. Oder zumindest einer ihrer lautesten Vertreter. Und weil Lenz anders als viele seiner KollegInnen tatsächlich schreiben kann, tut er das anders als viele andere Autobiographen der Techno-Szene in Die Macht der Nacht ohne Hilfe anderer.

Um die eigene Sozialisation geht es genauso wie um die späteren Erfolge mit seinem Label Low Spirit und die Assimilation der ravenden Gesellschaft im Mainstream der Minderheiten. Dass WestBam dabei auch gegen dogmatischere Underground-Figuren wie etwa WolleXDP austeilt und auch sonst seine „Hater“ nicht verschont, zeigt allerdings ebenso: Auch diese Autobiographie entspringt voll und ganz den Eigenarten ihres Urhebers. Das immerhin macht sie auch sehr amüsant.

WestBam
Die Macht der Nacht
256 Seiten
18 €
ISBN: 978-3-843-71079-4
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Art Sex Music (2017) von Cosey Fanni Tutti

House, Techno, Clubs: Das ist bei weitem noch nicht alles, was die elektronische Musik der letzten Jahrzehnte prägte. Transgressive Performance-Art, schockierende Industrial-Sounds und die passenden (Quer-)Köpfe dahinter gehören ebenso fest zur Szene dazu, wie weit auch immer sie sich an deren Rändern bewegen. Cosey Fanni Tutti war Mitbegründerin des Kollektivs COUM Transmissions und der Band Throbbing Gristle, die einst von einem britischen Parlamentsabgeordneten als „Zerstörer der Zivilisation“ bezeichnet wurden. Als Teil von Carter Tutti Void sowie als Solo-Künstlerin bewegt sie sich weiterhin an der Grenze zwischen Konzeptkunst und Dancefloor-geeignetem Material.

Techno Autobiographie: Art Sex Music von Cosey Fanni Tutti.

Mit 'Art Sex Music' legte das Multitalent im Jahr 2017 das Buch vor, nach der sich so einige Throbbing-Gristle-Fans gesehnt hatten – obwohl Tutti darin auch sehr schonungslos von den Misshandlungen durch Throbbing-Gristle-Mastermind Genesis P. Orridge berichtete. Das ist aber selbstverständlich noch lange nicht alles, was Coseys umfangreiche und von Tagebucheinträgen aus allen Phasen ihres Lebens ergänzte Autobiographie zu einer essenziellen Lektüre macht. 'Art Sex Music' korrigiert viele Missverständnisse rund um eine der radikalsten Künstlerinnen der letzten Jahrzehnte, die wie kaum eine andere ihren Einfluss auf Generationen von Techno-Heads ausübte.

Cosey Fanni Tutti
Art Sex Music
502 Seiten
Ca. 14 €
ISBN: 978-0-571-32851-2
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Mechanical Fantasy Box (2019) von Patrick Cowley

Auch das künstlerische Erbe von Patrick Cowley wurde erst spät erschlossen. Bis vor wenigen Jahren war der im Jahr 1982 an den Folgen seiner AIDS-Erkrankung verstorbene Komponist und Produzent vor allem für seinen Remix von Donna Summers 'I Feel Love', seine Arbeit mit Sylvester an unter anderem 'You Make Me Feel (Mighty Real)' und als Produzent von Schwulenhymnen wie 'Menergy' bekannt – eine wichtige, letztlich aber kleine Fußnote in der Disco-Geschichte stellte der Erfinder des „San Francisco Sound“ für viele dar. Mehr jedoch nicht. Oder?

Keineswegs. Seit dem Jahr 2013 kümmert sich Josh Cheon mit seinem Label Dark Entries mehr als liebevoll um die Aufarbeitung von Cowleys Werk, das trotz seiner recht kurzen Wirkphase – erst 32 war der Produzent, als er verstarb – beeindruckend umfangreich und vielschichtig ist. Neben Cowleys diversen Soundtrack-Arbeiten für Pornofilme legte Dark Entries auch sein bisher unveröffentlichtes Kollaborationsalbum mit Candida Royalle, eine kuriose Avantgarde-Platte mit experimentellem Gesang und brodelnden Synthie-Flächen, neu auf.

Techno Autobiographie: Mechanical Fantasy Box von Patrick Cowley

Im Jahr 2019 gelang Cheon ein weiterer Coup: Mit der 'Mechanical Fantasy Box' veröffentlichte er nicht nur bisher ungehörtes, zwischen den Jahren 1973 und 1980 entstandenes Material aus Cowleys Nachlass, sondern ebenso zeitgleich entstandene Tagebucheinträge. Die berichten in poetisch verdichteter Sprache vor allem von Cowleys Lust- und Liebesabenteuern in einem entfesselten Jahrzehnt und werden von den Illustrationen des französischen Künstlers Gwenaël Rattke perfekt ergänzt. Auf recht wenigen Seiten wird so sehr viel über Zeit, Subkultur und nicht zuletzt eine Ausnahmefigur der elektronischen Musikgeschichte vermittelt.

Die Einnahmen aus den Verkäufen der 'Mechanical Fantasy Box' übrigens gehen an die San Francisco AIDS Foundation, die noch weiter gegen die Pandemie ankämpft, deren frühes Opfer Cowley war.

Patrick Cowley
Mechanical Fantasy Box
mit Illustrationen von Gwenaël Rattke
128 Seiten
Ca. 32 €
ISBN: 978-1-942-88454-5
Link

Veröffentlicht in Features und getaggt mit A History of American Dance Music Culture 1970-1979 , Bill Brewster , DJ Culture: Diskjockeys und Popkultur , Energy Flash: A Journey Through Rave Music and Dance Culture , Frank Broughton , Last Night a DJ Saved My Life , Literatur-Essentials , Love Saves The Day , Peter Shapiro , Simon Reynolds , Techno Rebels , The History of the Disk Jockey , The Renegades of Electronic Funk , Tim Lawrence , Turn the Beat Around

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