Nachbericht: Balance Club / Culture Festival 2020 (Web Edition)

Nachbericht: Balance Club / Culture Festival 2020 (Web Edition)

Features. 1. Juni 2020 | / 5,0

Geschrieben von:
Nastassja von der Weiden

First things first: Das Balance Club / Culture-Festival in Leipzig ist mein Lieblingsfestival. Denn hier kommt alles zusammen, was musikalisch außergewöhnlich, emerging und empowernd ist – und was für mich neue Clubmusik und zeitgenössisches Kunsterleben ausmacht. Plus, ich kann zu Hause schlafen und jeden Tag heiß duschen – ja, auch das ist für mich eines der Top-Selling-Argumente für dieses Festival. Direkt danach finden sich noch das Atonal Festival in Berlin und das Gamma Festival in St. Petersburg auf meiner Top-Festival-Liste.

Seit ich (damals noch als Autorin) die erste Edition des Balance Festivals ankündigen und später als Chefredakteurin von frohfroh das gesamte Festival begleiten durfte, freue ich mich jedes Jahr darauf. Dieses Jahr ist – ihr wisst, warum – alles anders. Dass Festivals abgesagt wurden und die Clubs seit März geschlossen sind und vorerst bleiben, daran haben wir alle uns mehr oder minder schmerzlich gewöhnen müssen. Das Balance Festival konnte somit nicht wie geplant in mehreren Locations in Leipzig stattfinden.

Web-Edition im Netz statt in Clubs

Die MacherInnen disponierten innerhalb weniger Wochen um: Web-Edition statt Clubs, eine unfassbar ausgetüftelte, krasse Website statt Livestreaming via Facebook und das komplette Festivalpaket kostenlos oder für einen Soli-Ticket-Beitrag zwischen 5 und 20 Euro statt dem üblichen Festivalbändchen und Abendkasse. Mit dieser unverhofften und überraschenden Entscheidung die Veranstaltung trotz der Widrigkeiten stattfinden zu lassen machte das Balance-Team nicht nur seine Fans und Follower, sondern vor allem auch die von der Krise betroffenen KünstlerInnen und Acts glücklich, die zur 3. Edition des Festivals eingeladen waren.

Theorie und Praxis

Zu Hause raven und Vorträge anschauen, zum eigenen Kühlschrank gehen, um sich zwischen zwei Acts ein Bier oder eine Cola zu holen … na ja, natürlich ist das im Vergleich zu einem im echten Leben stattfindenden Festival ungeil. Es bestreitet auch wirklich niemand, dass Streaming und YouTube keine echten Alternativen für das gemeinsam-gemeinschaftliche Erleben im Club oder bei einer Performance wären. Werden sie wohl auch niemals sein – wie auch. Aber im Falle des Balance Festivals überwiegt für mich das Gefühl der Dankbarkeit, am Diskursprogramm trotz grassierender Pandemie teilhaben zu können, dem Musikprogramm zuhören zu dürfen und den Input des diversen und progressiven Line-Ups mitzunehmen.

Also, die Urlaubstage sind sowieso eingereicht, der Laptop mein ständiger Begleiter und die häuslichen Alkohol- und Drogenvorräte wurden pünktlich aufgestockt. Einem digitalen Trip steht also nichts im Wege. Was ich besonders empfehlen kann, welche Sets ihr unbedingt “nachhören” solltet und wie es sich anfühlt, alleine zu Hause den Laptop anzuwerfen, um bei einem Festival “dabei” zu sein, habe ich für euch notiert.

Opening

Die Opening-Performance von Francisco Baños Diaz (Choreograph und Tänzer), Luke Oliver Francis (Tänzer), Katharina Merten aka Dorothy Parker (Musik), Rachel de la Torre aka Lamb Kebab (Vocals) und Lotte Meret Effinger (Kostüm/Visual) ist die einzige Veranstaltung, die mit Publikum stattfand. Unter freiem Himmel, mit großem Abstand zueinander und Maske über Mund und Nase durften vorangemeldete Interessierte die Performance also in einer regelrecht „normalen“ Manier erleben. Gefilmt wurde die Performance von Felix Schütze. Die filmische und fotografische Begleitung wurde am letzten Tag des Festivals veröffentlicht und somit für alle Daheimgebliebenen zugänglich gemacht.

© Lucie Marsmann
© Lucie Marsmann
© Lucie Marsmann

Das Opening war immer eines der ganz besonderen Highlights, wenn ich mich an die vorherigen Editionen erinnere. In Anbetracht der momentan herrschenden Situation sticht die Open-Air-Performance natürlich allein deshalb heraus, weil Publikum anwesend war – aber mehr noch, 'Peeling Fruit In Front Of Strangers' ist auch als Video faszinierend und eindrücklich. Seht selbst, die halbstündige Performance aus Tanz, Rap und avantgardistischer Clubmusik könnt ihr weiterhin auf der Website des Festivals und via YouTube anschauen:

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Artist Talks und Diskursprogramm

Das Festival besteht aus verschiedenen Säulen, eine davon ist das Diskursprogramm. Dazu kommen einige Artist Talks, die nicht nur zur Web-Edition für alle kostenlos abrufbar sind. Schon bei den letzten beiden Festivals waren etliche Screenings, Workshops und Vorträge kostenlos, um die soziale Teilhabe von allen, die sich für ein Thema interessieren, zu garantieren.

Eines der wichtigsten Gespräche fand dieses Jahr zwischen der Musikerin und DJ Mine Wenzel, der Journalistin und Anti-Rassismus-Trainerin Arpana Aischa Berndt und Balance-Teammitglied Ulla Heinrich statt. Gemütlich im Bett, mit einem Pizzarest auf dem Schoß, kann ich einschalten, wann ich möchte, muss nicht zum Festivalzentrum radeln – very cozy. Dann gibt es 52 Minuten Input zum Thema Allyship, Kapitalismuskritik und Einblick in die Arbeit der beiden Aktivistinnen, die sich unter anderem um diese Fragen dreht: Wer wird gehört, wer wird diskriminiert? Wer ist unsichtbar in unserer Gesellschaft? Was ist Intersektionalität?

Und auch um Instagram als Plattform für politische Bildungsarbeit und Outcalling geht es in diesem Triple-Split-Screen-Gespräch. Für mich: Absolute Empfehlung. Mein Tipp an euch: Versucht, sobald es wieder erlaubt ist, zu einem Workshop der beiden zu gehen. Auch der Workshop 'How to be an ally' von Arpana Aischa Berndt und Maja Bogojević wird euch weiterbringen, wenn es darum geht, wie Allianzen bzw. Allyship aussehen kann und sollte.

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Clubfeeling

Wie auf jedem Festival habe ich mir nicht alle Sets angehört oder angeschaut. Aber, das ist das Schöne am Konzept des YouTube-Kanals, alle Beiträge sind weiterhin verfügbar und damit nachhaltig und auch zukünftig zugänglich. Mehr noch, die Sets sind größtenteils nicht nur musikalische, sondern auch visuelle Highlights. Insta-Grafik-Artist Flufflord kollaborierte zum Beispiel mit der Leipziger DJ Solaris. Scheinbar wurden einige Sets vor einer Green Wall aufgezeichnet, damit die Visual-KünstlerInnen ihre Arbeiten mit dem jeweiligen Set verbinden konnten. Authentically Plastic filmte sich im Gegenzug über den Dächern von Kampala, während die Nacht hereinbrach. Fazit: Das ist mehr als Streaming. Und nicht nur die schönsten Stellen im Set können per Klick wiederholt werden, auch die schönsten und mitunter sehr konzentrierten Gesichtsausdrücke der DJs.

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Für einen Abend, den Samstag, lud ich mir (ist das schon illegal oder noch okay?) drei FreundInnen zu mir ein, um mit ihnen Teile des Balance-Programms gemeinsam anzuschauen. Kein Anstehen, kein Entscheiden-müssen, auf welchem Floor man nun gemeinsam tanzen wird, und wenn alle zum Rauchen verschwinden, kann man einfach auf Pause klicken. Und wer konsumieren möchte (soll vorkommen, auch in Krisenzeiten), muss nicht an der Toilette anstehen, sondern präpariert sich seine Favorites auf dem heimischen Spiegeltisch. In der Theorie eigentlich gar keine schlechte Sache. Es lief dann sogar wirklich wie im Club: Wir erzählten mehr, als wir getanzt hätten.

Die Sets liefen, der Sekt war immer kalt und wir sprachen über die letzten, schönen Partys, die wir vor dem Shutdown besuchten. Endlich wieder Gespräche, die nicht nur von Krise, nicht nur von Corona, nicht nur vom Homeoffice handeln. Ungeheuer erfrischend, muss ich zugeben. Das Clubgefühl, einen sozialen Raum mit anderen Menschen zu teilen und zu entdecken, kam „ganz wie früher“ auf. Was mir allerdings noch nie so bewusst auffiel wie an diesem Abend: Ich brauche echt mal bessere Boxen.

Kurzweilig anzuschauen und anzuhören sind mit Sicherheit alle Acts. In vertrauter Aufmachung als Videostream oder als Podcast bei Soundcloud gibt es eine breite Auswahl an tollen DJs zu entdecken, von lokalen bis internationalen Größen. Aber es wäre nicht das Balance-Festival, wenn die eigene Erwartungshaltung nicht herausgefordert werden würde. Ein solches Set ist mir besonders in Erinnerung geblieben: das Visual Set von Lyzza. Ihr Set ist völlig anders, als ich es erwartet hätte – viel ruhiger, viel klarer als ihre Dancefloor-Hits-Sets stellt Lyzza in diesem Visual Set ihre EP namens 'Defiance' vor, die ich ehrlicherweise noch nicht kannte. Die Künstlerin einmal als Produzentin und nicht als Peak-Time-Abräumerin wahrzunehmen, kommt für mich einer Offenbarung gleich, die ich wohl ohne die Web-Edition nie gehabt hätte. Das Set läuft, seit ich es entdeckt habe, in Dauerschleife.

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Closing Highlight: Sampler und Merch von Aleen Solari

Am letzten Festivaltag trumpft das Team dann noch weiter auf und veröffentlicht den schon im April angekündigten Balance-Sampler. Das Festival wird also durch Corona kurzerhand zum Label und releast eine wahnsinnig gute Compilation mit zehn Tracks. Die Erlöse des Samplers mit name your price policy werden an die Leipziger Migrantifa gespendet. Meinen persönlichen Hit habe ich schon gefunden: Lamb Kebab und Doll Face mit 'Burn'. Hier schließt sich der Kreis zum Anfang, denn diese Kollaboration entstand im Zuge der Performance 'Peeling Fruit In Front Of Strangers'.

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Als Erinnerung an das Festival, wie man das eben kennt, habe ich mir noch eine Kleinigkeit der limitierten Kollektion von Aleen Solari bestellt. Die Künstlerin hätte unter normalen Umständen das Festivalzentrum gestaltet – da das nicht ging, kreierte sie eine exklusive Hoodie- und T-Shirt-Kollektion mit dem einprägsamen Slogan „Esoterik und Gewalt“. Als besonderes Andenken konnte auch ein “Crystal”-Harness erworben werden, das die Künstlerin aus Silber und einem Amethyst anfertigt. Auch hier gelingt der Dreh, die ursprünglich eingeladenen KünstlerInnen in andere Ideen einzubeziehen und sie weiterhin im Festivalkonzept zu bedenken.

Neu, innovativ, zeitgemäß: Balance

Um es kurz und bündig auf den Punkt zu bringen: Das Balance-Festival hat sich mit dieser Edition nicht nur kredibel etabliert, es hat gezeigt, welche unbeschrittenen Wege in dieser Krise gegangen werden können – und das in einer unglaublich kurzen Zeit. Dem kompletten Team ist es zu verdanken, dass die FestivalbesucherInnen einmal mehr bereichernde Erfahrungen machen, progressive moderne Clubmusik entdecken und Insights über die Arbeit aufstrebender KünstlerInnen erfahren durften. Danke dafür, Balance-Festival.

Veröffentlicht in Features und getaggt mit Aleen Solari , Arpana Aischa Berndt , Balance Club / Culture Festival , DJ-Set , Festival , Flufflord , Lyzza , Mine Wenzel , Nachbericht , Peeling Fruit In Front Of Strangers , performance , Solaris , Ulla Heinrich , Web Edition

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