From Russia With Love: Das Gamma Festival 2019 in St. Petersburg
© Gamma Festival

From Russia With Love: Das Gamma Festival 2019 in St. Petersburg

Features. 20. Juli 2019 | / 5,0

Geschrieben von:
Nastassja von der Weiden

Unsere Gastautorin Antoinette Blume war auf dem Gamma Festival in St. Petersburg und hat einen Reisebericht über ihren Techno-Urlaub in Russland geschrieben. Sonst schreibt sie beim Leipziger Blog frohfroh über Clubkultur und elektronische Musik, interviewt KünstlerInnen und arbeitet als freie Texterin.

 

Für alle 007-Fans: Ich weiß, dass der Bond-Film aus der Überschrift auf Moskau anspielt. Aber egal, Russland ist Russland, oder? – Njiet! Nein! St. Petersburg wird gehandelt wie Berlin – und Berlin ist eben auch nicht so wie der Rest von Deutschland, wenn man das mal so verkürzt sagen darf.

St. Petersburg also. Aber alles der Reihe nach.

Im Januar gab es einen unerwarteten Geldüberfluss bei mir. Und den wollte ich nicht beim Späti und/oder im Berghain „durchbringen“, sondern etwas Langanhaltende(re)s damit machen. Kurz entschlossen buchte ich mir einen Flug nach St. Petersburg und kurz darauf ein Super-Early-Bird-Ticket für DAS Mega-Techno-Festival in Russland: Gamma. Die Superfrühbuchertickets (Alman-Style, kann ich nicht leugnen) kosten umgerechnet 20 Euro für zwei Festivalnächte, Flug ab Leipzig/Halle 235 Euro mit Lufthansa und ein Visum (auf die bequeme Agentur-Tour) 95 Euro.

Also, warum eigentlich nicht? Lassen wir die Flugscham mal außen vor, ist ein Russland-Trip nicht zwingend viel teurer als ein ausgedehntes Fusion- oder Atonal-Wochenende. So halb. Schon allein, da ich im Ausland Drogen scheue (und jedem nur raten kann: Don‘t do it. Just don’t.) sollte die Rechnung aufgehen. Und die Vorfreude auf das, was da im fernen Россия kommen mag, ist groß. Das Line-Up des Festivals steht im April fest, (meine) Highlights sind Dax J, map.ache, Varg, Michela Pelusio, Oscar Mulero, Marta Smilga und Lena Popova. Das Line-Up umfasst mehr als 70 KünstlerInnen aus 15 Ländern und besteht zu gut 50 Prozent aus russischen Acts, die ich natürlich ebenfalls weit oben auf die ‚must-see‘-Liste setze.

Mit map.ache ist neben mir mindestens noch ein Leipziger auf dem Gamma. Im gleichen Flieger sitzt er allerdings nicht, er spielt noch drei Mal an diesem Wochenende und jettet aus Amsterdam erst Sonntagnacht auf das Gelände. Mein Sitznachbar im Flugzeug ist der Leipziger Künstler fragmentiert, der ebenfalls Lust hatte, das Gamma anzusteuern.

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Mehr Informationen

Gamma Pro

Vor dem ‘main event’ von Samstag auf Sonntag in und vor der Stepan Razin Factory, einer ehemaligen Bierbrauerei, findet das Gamma Pro Festival mit Vorträgen, Netzwerkarbeit, einem Eröffnungskonzert im Planetarium und Live-Performances statt. Bei den Diskussionsforen vor Ort sitzen nur die hochkarätigsten Speaker – zum Beispiel eine der KuratorInnen des Gamma Festivals selbst, Oliver Baurhenn vom CTM Festival oder Mieko Hakkaku als Vertreterin des Miraikan Museums in Tokio – nur high-class, befinde ich. Beim Speed-Dating kann man mit eben jenen ins Gespräch kommen, eigene Projekte zeigen oder einfach nur plaudern. Sicher hoffen einige der anwesenden KünstlerInnen, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Das Gamma Pro Festival in St- Petersburg.
© Gamma Festival

Die Atmosphäre auf dem Gamma Pro ist bis auf das Speed-Dating sehr ruhig, es sind ca. 50-70 Menschen bei den Panels dabei; sie wirken konzentriert, auf einzelne Beiträge fokussiert. Ganz anders wird es dann in der Razin-Fabrik zugehen. Reizüberflutung (im positiven Sinne) ist eines der Worte, das ich wählen würde, um die Stimmung in der Fabrik zu beschreiben. Fünf Bühnen übereinander, alles findet parallel statt, eine nicht fassbare, einschlagende Lautstärke steht uns noch bevor. Dort findet dann auch der TEXHO statt, den die St. Petersburger Szene feiert. Bei Gamma Pro finden eher die Zwischentöne, experimentelle und audiovisuelle Parts ihren Platz wie die meditative, musikalische Arbeit von Kazuya Nagaya aus Japan in Kombination mit einem der beeindruckendsten Visual Artists of all times, Ali Demirel.

Weniger Gleichheit, mehr Expressionismus

Techno, Avantgarde und experimentelle elektronische Musik versprechen Freiheit. Frei zu denken, zu kreieren, zu sprechen – und nicht zuletzt zu tanzen. Auf dem Gamma Festival schwappt für mich aus jeder Ecke noch das wahre, wahrhaftige Bedürfnis nach Freiheit. Nach Alternative. Sich so zu kleiden, wie man eben möchte. Auf dem Festival begegnet uns weniger Gleichheit, dafür mehr Expressionismus, so ist mein Eindruck.

Auf den verschiedenen Stages passiert in der Razin-Fabrik musikalisch Ungeheuerliches, es ist krass, enorm laut und es ergreift die Menschen – wortwörtlich. Es wummert so stark durch den Körper, nicht nur die Ohren vibrieren. Die Decken sind aufgerissen, der Boden nicht begradigt. Die alte Brauerei kocht, das enge, dunkle Treppenhaus erinnert beängstigend an die vollen Rolltreppen der U-Bahn zur Rushhour. „Brandschutz“, denke ich. Außer mir denkt in diesem Moment, glaube ich, niemand an dieses Wort... Eine Person in einem langen, luftigen Mantel und unheimlich hohen Schuhen schiebt sich vorbei, vier Frauen stoßen an, sie trinken gemeinsam Vodka.

Immer wieder applaudieren Menschen, tauschen Rubel gegen Wertmarken, stehen am Gamma Shop an, um noch ein T-Shirt oder eine Tasche zu bekommen. Einige fotografieren sich vor einem Graffiti. An einer Mauer ist ein Ohr angesprayt, darüber stehen die Zahlen 1 9 8 4. Auch ein abstraktes Werk ineinander verschlungener geschlechtsloser Körper ist ein beliebter Fotohintergrund.

Ein Graffiti auf dem Gamma Festival in St- Petersburg.
© Antoinette Blume

Die Party ist morgens noch in vollem Gange, ein Einbrechen der Gästeanzahl ist nicht bemerkbar, vor der Sicherheitsschleuse ist keine Schlange mehr – Peak-time. Nur so wirklich anschlussfähig sind wir ohne Russisch-Skills leider nicht. Aber wir treffen Sergej wieder, der auch auf dem Gamma Pro war. „Die Atmosphäre auf dem Gamma-Festival ist einmalig. Es gibt viele gute Partys in St. Petersburg, meist mit Local Acts, aber das Gamma ist einzigartig“, erzählt er mir. Er ist selbst DJ und spielt noch auf einer kleinen, selbst-organisierten Party, bis es für ihn weiter zur Gamma Afterparty geht. Hoffe er zumindest, sagt er, genau wisse man ja nie, wo man schließlich lande, wenn man feiern geht.

Ein Floor auf dem Gamma Festival in St- Petersburg.
© Gamma Festival

Ich weiß zumindest schon nach ein paar Stunden schnellem Techno und anschließenden zwei Vodka-Shots, dass es zumindest für mich nach Hause geht. Für 1.300 Rubel (ca. 18 Euro) geht es zurück ins Hotel, klar wurden wir (ein kleines Bisschen) vom Taxifahrer abgezogen – Handys waren aus, kein Uber mehr. Egal. Nach Hause, ausruhen und abends zur Aftershowparty? „Na ja, mal sehen...“

Unterwelten

Am nächsten Tag, Sonntag, gehen wir essen und werten den vorigen Abend aus. Dabei spricht uns ein Kellner auf unsere Festival-Bändchen am Handgelenk an. Wir kommen ins Gespräch, denn er wäre auch gerne zum Gamma gegangen, bekam aber nicht frei. Er erzählt uns ein paar Insights: Die Partyreihe namens Unterwelten im Club RAF25 sollten wir uns bei unserem nächsten Besuch in St. Petersburg nicht entgehen lassen. „Unterwelten – ein deutscher Begriff!“, lache ich noch, als er uns begeistert ausführt, dass deutsche Begriffe gerne genutzt werden, wenn es um Techno und die alternative Szene in Russland geht. Warum? Wegen Berlin, simple as that. Ob wir Sibirien kennen, fragt er mich und sagt: „Techno is dead in Syberia. It never was alive actually. It’s much better here in Petersburg!“

Unterwelten, ok, ist notiert. Ganz ausschließen will ich es nicht, noch einmal nach St. Petersburg zu kommen, die Stadt hat schon ihre Spezialitäten. So wie ich die Sache einschätze, ist das nächste Gamma Festival sicher schon in Planung. Aber noch ist das diesjährige Festival nicht vorbei.

Weiße Nächte

In St. Petersburg wird es im Juni und Juli nicht richtig dunkel. Es bleibt hell, bläulich-dämmernd, grau-anthrazite Wolken auf weißem Grund – die sogenannten weißen Nächte. Weiße Nächte und doch keine Nacht, das sieht man auch ein paar Feiernden auf der Afterparty an. Die findet im Blank statt, einem Club, der an einer Brücke liegt und mit drei Floors nochmal komplett auffährt. Und zwar mit I Hate Models, Anthony Child, Mutek Sound System, Peter Kirn, Unbalance… Um nur ein paar Namen zu nennen.

© Antoinette Blume

Auf dem dritten, vielleicht kleinsten, aber ganz sicher vollsten Floor spielt map.ache live in Panoramabar-Manier vor einem Pulk schwitzender, glitzernder, happy People. Wir schlängeln uns in den 90 Minuten des Live-Sets langsam, aber sicher in die erste Reihe, um ihn noch auf ein-zwei Zigarettenlängen und ein paar Worte abzufangen. Im Rauchergang erzählt er, wie es dazu kam, dass er hier in St. Petersburg spielte: „Das kam durch Giegling, die schon seit drei Jahren mit dem Gamma Festival kooperieren. Und dieses Jahr durfte ich hier spielen.“ Sein Fazit: „Ich fand den Club imposant und die Leute sehr cool und herzlich. Super war, dass sich viele bei einem eher düsteren Line-Up so gut auf mein Live-Set eingelassen haben. Das hat viel Spaß gemacht“, sagt er. Für ihn geht es nach dem kurzen Talk ins Hotel und schließlich zurück nach Leipzig.

© Antoinette Blume
© Antoinette Blume

Uns zieht es noch einmal auf den großen Floor und nach draußen. Ein letzter Blick auf die Terrasse, auf der ebenfalls gerade ein Act spielt – wer das genau ist, weiß ich nicht, es ist auch gar nicht so wichtig, glaube ich. Die Meute vor ihm jubelt, am Rande der Terrasse steht ein Cateringwagen, zwei Raver in engen neongrünen Langarmshirts essen vegane Burger mit Pommes. Fast wie zu Hause. Aber eben doch anders.

Vor dem Club wartet unser Uber-Taxi, wir fahren ein letztes Mal über die Newa – in einem ziemlichen Tempo. Wer vorher getrunken hat, kotzt sich schnell voll, spekuliere ich, und wir rasen über die Brücke. Alles ist ein bisschen schneller hier in St. Petersburg – die Rolltreppen, die Autos und der Techno. Auch ein wenig düsterer und unmittelbarer, authentischer, kamen mir die Abende im Vergleich zu Clubabenden in Leipzig und Berlin vor – was aber wirklich nur mein persönlicher Eindruck ist. Was mir klar geworden ist: Die russische Technoszene wird mich weiter begleiten. Eine Recherchereise durch Sibirien würde mir gefallen.

From Russia with love!
Antoinette Blume

Gamma Festival 2020 - Tipps & Tricks

Ein paar Kniffe, Tipps und Tricks möchte ich euch an dieser Stelle zuteilwerden lassen – wer wirklich vorhaben sollte, das Gamma Festival 2020 zu besuchen, wird es mir vielleicht danken, alle anderen scrollen einfach weiter.

Visum
Das braucht ihr in den meisten Fällen, außer ihr habt einen russischen Pass! Die unkomplizierteste Variante: Mit allen nötigen Dokumenten zu einer Agentur, die sich darum kümmert. Rechnet für die ganze Geschichte etwa eine Woche ein.

Geile Spots
Josh Café (Nevsky Prospekt), Pita‘s Streetfood (nähe der Moschee), Del Mar (auch Nevsky Prospekt).

Internet
Ohne Internet ist ungeil. Nicht nur fürs Instagramming, auch für Google Maps und Metro schon empfehlenswert. Von russischen Bekannten und mir als Tipp: Kauft eine russische SIM-Karte. Russland ist eben nicht EU, alles andere geht wahnsinnig ins Geld. Beeline oder Megafon, unlimited Streaming für 300 Rubel (umgerechnet 5€) gegen Vorlage des Reisepasses kann ich empfehlen.

Geld
Ein super Frühstück im Coffee-House oder ein Bistro-Essen (Burrito, Hummus mit spicy Hähnchen oder Gemüse, Salate ...) kosten mit zwei Getränken für zwei Personen ca. 1000 Rubel (14 €). Ein Metroticket kostet 45 Rubel (0,70 €), eine Cola 70 Rubel (1 €).

Kyrillisch
… ist nicht nur ästhetisch (irgendwie TEXHO, don‘t u think?), sondern auch easy zu lernen. Zumindest das Alphabet kriegt ihr in ein bis zwei Stündchen rein und könnt damit einige Schilder lesen und euch leichter orientieren.

Taxi
Fahrt mit Uber, welches in St. Petersburg innerhalb der App zwar zum niederländisch-russischen Dienst Yandex wechselt, aber genau wie und über Uber läuft.

Sexualität
Ich möchte weder in die Klischeekiste greifen noch mich nach einer Woche als Russlandexpertin aufspielen – dennoch kann ich eine Beobachtung weitergeben. Im öffentlichen Raum habe ich keine homosexuellen Paare gesehen, also so, dass sie sichtbar waren. Auf dem Gamma Festival hingegen schon – knutschend, die Hände des Anderen haltend. Genau wie einen Rollstuhlfahrer, mit dem wir beim Opening Konzert im Planetarium sprachen und auf der Terrasse des Blanks wiedertrafen. Diese Beobachtung deckt sich mit dem Wissen um die herrschende politische Situation in Russland, zumindest wie ich sie medial wahrnehme oder von russischen Freund*innen geschildert bekommen habe.

Veröffentlicht in Features und getaggt mit Anthony Child , Antoinette Blume , Dax J , frohfroh , Gamma Festival , Gamma Pro Festival , I Hate Models , Lena Popova , Map.ache , Marta Smilga , Michela Pelusio , Mutek Sound System , Oscar Mulero , Peter Kirn , review , Russland , St. Petersburg , Uber , Unbalance , Varg

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