Review: Joachim Spieth – Tides [Affin]

Review: Joachim Spieth – Tides [Affin]

Features. 16. Februar 2020 | / 5,0

Geschrieben von:
Tim Tschentscher

In einer Welt des stetigen Umbruchs braucht man manchmal einen Ausknopf. So einen Kill-Switch, den man drücken kann, um Stress und Trigger abzuschalten und wieder bei sich selbst ankommen zu können. Natürlich gibt es diesen Knopf nur im übertragenen Sinne, und die Mittel, um einen solchen Zustand zu erreichen, können ganz individuell sein. Für Joachim Spieth liegt so ein Zustand der Erholung in der Musik verborgen. Auf seinem zweiten Langspieler 'Tides' kreiert, erkundet und besiedelt er Klangtexturen und erschließt dabei begehbare Raumkonstrukte. Entstanden ist ein Klangbad, das so immersiv und vereinnahmend ist, dass man glaubt, die Orientierung zu verlieren.

Als Betreiber des Labels 'Affin' konnte Spieth seit 2008 knapp 200 Veröffentlichungen auf den Weg bringen. Eigene Stücke releaste er bereits seit 1999, zunächst hauptsächlich über Wolfgang Voigts Label ‘Kompakt’. Über das mittlerweile inaktive Stuttgarter Label ‘Onitor’ erschien zur Jahrtausendwende die Deep-House-LP 'Fluchtpunkt', die er selbst aber wohl nicht zu seinem offiziellen Albenkatalog zählt. So gilt das im Jahr 2017 über das eigene Imprint 'Affin LTD’ erschienene Projekt 'Irradiance' als die erste offizielle Albumkür in Spieths bis dahin bereits umfangreicher Diskografie. Mit dieser Platte übte Spieth sich in der Disziplin, Ambient in einen tanzbaren Technokontext zu versetzen. Weite ineinander verschobene Flächen, denen durch schwingende Bass-Drum-Hypnosen entgegengesteuert wird.

Zu allererst: 'Tides' ist kein Album wie 'Irradiance'. Zwar stammen beide Platten aus derselben Feder und gewisse Überschneidungspunkte sind unüberhörbar. Dort allerdings, wo sich der Vorgänger im Rausch des Deep Techno verliert, atmet 'Tides' bereits erholsam kristallene Exilluft aus. Spieth gibt sich auf diesem Album voll der Entschleunigung hin, kürzt sämtliche Beats heraus und sucht nach freien Formen des Ausdrucks. Es scheint, als griffen die Stücke beinahe unbemerkt ineinander über. So gleichen sie weniger einer bloßen Aneinanderreihung als vielmehr einer selbstreferenziellen Grundstimmung, eingefangen in acht konzisen Frames. Jeder Track scheint aus sich heraus neu zu entstehen und in den jeweils folgenden hinüberzugleiten.

Die Platte beginnt mit dem Stück 'Cahaya Bulan', einer Art elektronischer Mondscheinserenade. Früh zeigt sich Spieths Verständnis, Flächen wellenförmig zu konturieren. Sphärische Elemente arbeiten sich nach und nach in den Vordergrund, laufen gegen andere Spuren und verschwinden kurz, um dann größer und imposanter modelliert wiederzukehren. Man stelle sich einen großen aufziehenden Vollmond vor, der das nächtliche Dunkel allmählich mit gleißend hellem Licht erleuchtet. 'P 680' streckt diese Idee weiter aus und die A-Seite verschwimmt in atmosphärischer Ehrfurcht. Spieths Stücke sind höchst meditativ, weil sie nicht im Zugzwang stehen, auf der Tanzfläche funktionieren zu müssen.

Lediglich einmal bricht Spieth mit dem Stück 'Ultradian' stilistisch am ehesten die Stimmung der Platte auf. Ein rhythmisch pochendes, ewig zirkulierendes Laufgeräusch will so etwas wie Hektik und Bewegung erzeugen. In der Ferne ist das Sample einer Trillerpfeife zu hören und man fühlt sich an einen morgendlichen Waldlauf erinnert. In jedem Fall wird hier der Drang der Platte deutlich, sich zunehmend vorwärtsgerichtet entwickeln zu wollen.

Spieth bietet mit seinen Stücken immer wieder Templates an, die mit jeweils eigenen Interpretationen aufgeladen werden sollen. In 'Solstice' glaubt man unter einer sonischen Eisdecke her zu tauchen, während das Stück selbst versucht, von einer Sonnenwende zu erzählen. Insbesondere auf der C- und D-Seite hat sich Spieth vollständig auf Immersion eingestellt, weicht klanglich kaum noch von seiner Formel ab. Auf 'Antipodal' und 'Equinox' wird eine Gleichförmigkeit heraufgeloopt, die ähnlich zur A-Seite die eigenen Konturen verwischen lässt.

Unweigerlich schwingt mit der Platte auch eine gewisse Kälte mit. Klar, 'Tides' ist in jedem Fall auch ein Live-Album geworden und erfährt wohl erst durch Licht- und Klanginszenierung noch wesentlich tiefere Dimensionen. Selten aber wird die intensive Eindrücklichkeit durch Brüche ('Ultradian') gestört oder verändert. Spieth hat einen eisigen Raum der Klarheit erschaffen und sich darin eingerichtet. Das kann man gut oder schlecht finden, sorgt aber dafür, leichter in einen andauernden Zustand der Beruhigung gelangen zu können.

’Tides' erschien am 15. Februar auf Affin.

Veröffentlicht in Features und getaggt mit Affin , Album , Ambient , Joachim Spieth , review , Tides

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