Raves der 90er – Eine Zeitreise zu Mayday, Loveparade und Co.
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Raves der 90er – Eine Zeitreise zu Mayday, Loveparade und Co.

Features. 18. Juni 2025 | 4,4 / 5,0

Geschrieben von:
Christoph Benkeser

Irgendwo zwischen dem Platzen der Sowjetunion und dem Platzen der ersten Love-Parade-Kondome hat es einmal einen Sommer gegeben – und dann gleich noch einen, und noch einen –, in dem es vollkommen okay war, sich mit einem Staubtuch um den Kopf und einem Glas Wasser in der Hand auf einem stillgelegten Raketenstützpunkt zu begegnen. Man hantierte mit Begriffen wie "Einssein" und "PLUR", meinte das aber ernst. So richtig ernst. Ganzkörperernst. 

Denn die 90er waren das Jahrzehnt, in dem Techno auszog, um den Pop zu entmündigen. Oder Pop zu werden. Schließlich war das nicht irgendeine Musik, das war eine Kultur mit Camouflagehosen und Westbam-Siegel. Und diese Kultur hatte was vor: keine Gitarren mehr, keine breitbeinigen Solos mehr. Dafür Bass. Und Strobos. Und alle zuckten rum – auf den wichtigsten Raves der 1990er:

Loveparade: Friede, Freude oder: Wie man mit einem Panzer durch die Friedrichstraße rollt

Am Anfang war: ein Typ namens Dr. Motte. Kein echter Doktor, sondern ein echter "Spinner". Der ging 1989 auf den Ku’damm, um eine Demonstration anzumelden und zu sagen "Friede, Freude, Eierkuchen". Und dann, als der Westen gerade dabei war, sich in irgendwelchen SPD-Talkshows zu verlieren, kam die Love Parade. Anfangs 150 Leute. Später: 1,5 Millionen. Die größte Tanzfläche der Welt, ein sozialistischer Traum im kapitalistischen Glitzerkleid. Dieter Gorny drehte später. Coca-Cola auch. Davor aber rollten nur die LKWs mit ihren Lautsprechern. Social Media war ja noch nicht erfunden.

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Vielleicht kaute Väthe auch deshalb. Kaugummi oder Acid. Es war ja egal. Berlin war schließlich Hoffnung. Und mitten durch das Unfertige wummerte ein Sound, der keine Meinung hatte, aber eine Richtung: vorwärts. Auf der Siegessäule wackelten bald zu viele Leute. Techno wurde zum Volksfest. Menschen kamen aus Polen, Spanien, Japan, einfach so. Sogar die Deutsche Bahn fuhr mit dem Sonderzug nach Berlin. Das Ding war ja der größte Ausnahmezustand, der in Deutschland je erlaubt wurde. 

Mayday, Mayday

Was für die 64.000-Euro-Frage bei Günther: Die erste Mayday fand in Berlin statt. Und zwar als Hilferuf auf Ultrakurzwelle. "Rettet DT64" war nämlich keine Rettungsaktion für Sternenkrieger aus der DDR, sondern ein ostdeutscher Jugendsender. Und der stand nach der Wende vor dem Aus. Westbam, Klaus Jankuhn und Fabian Lenz – die Low Spirits – bauten also ein Soundsystem, das lauter war als jede Pressemitteilung. 5.000 Leute kamen nach Weissensee. Auch um zu zeigen, dass sie nicht alles dem Westen überlassen würden (was dem Westen aber scheißegal war). Jedenfalls wuchs die Mayday schnell. 1993 zog sie weiter – ins Ruhrgebiet, nach Dortmund. Die Ästhetik veränderte sich: weniger Berlin, mehr Bombast.

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Dazu: eine Hymne ("Raving Society") und jedes Jahr ein Motto, das klang wie aus einem Hegel-Seminar: "Forward Ever, Backward Never", "Save the Robots", ja, ja, ja! Die Mayday lieferte damit den Beweis, dass Techno auch organisiert sein konnte. Auf die deutsche Schrebergartenart. Mit Einlasskontrollen und Funktionsjacken und amtlich verordneten Getränkepreisen. So was wie eine konservative Revolution des Rave: ein Spektakel, das sich selbst verwaltete, mit Line-ups wie Gesetzestexten und BPMs wie Bauvorschriften. Kein Wunder, dass ausgerechnet Deutschland so etwas hervorbrachte. 

Spiral Tribe: Brichst du mir das Herz, dann brech ich dir die Beine

Großbritannien hat den Punk erfunden, den Rave entdeckt und dann beides verboten. Spiral Tribe, ein, man muss es einfach so schön hochschulig nennen: anarcho-nomadisches Soundkollektiv, nahm das persönlich – und tingelte fortan durch Europa. Frankreich, Italien, Tschechien: Das waren die neuen Spielwiesen des britischen Freetekno-Undergrounds. Verlassene Lagerhallen, Wiesen, Kasernen. Keine Tickets, keine Sponsoren, manchmal Polizei.

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Spiral Tribe war für Rave, was der Irokese für die Punks war: wild, unberechenbar, komplett durchgeknallt. Und unfassbar wichtig. Denn diese Leute erinnerten uns daran, dass Techno nicht dafür da war, mit Levi’s oder MTV zu kooperieren. Sondern dafür, puhh … Räume zu öffnen, in denen niemand nach deinem Namen fragt. Nur ob du vielleicht doch noch einen Schluck Wasser möchtest.

Nature One: Auf dem Zeltplatz ist die Rakete gestartet

Ab 1995 versammelten sich in einem ehemaligen NATO-Stützpunkt irgendwo in Rheinland-Pfalz: Goa-Heads, Trance-Fanatiker, Schranz-Verfechter, Einhörner, Biertrinker, Wackeldackel. Nature One war die Fusion aus Hippietraum und Bundeswehrbrache. Ein Festival, das nach Diesel roch und alles mit Utopie parfümierte. Standort: Raketenbasis Pydna, benannt nach einer antiken Schlacht, heute Austragungsort einer neuen – zwischen Bassdrum und Bewusstseinserweiterung. Die alten Bunkeranlagen wirkten wie außerirdische Relikte, perfekt für ein Volk, das sich leuchtende Schnuller in den Mund steckte und glaubte, Musik könne alles heilen.

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Anders als Loveparade oder Mayday war Nature One immer: ein Campingplatz-Delirium, Landjugend-Exzess mit Ballerballerdiplom, ein dreitägiger Geschmack zwischen Synthetik und Stacheldraht. Wer am Freitag ankam, hatte Montag keinen Orientierungssinn mehr. Nur noch Staub auf der Zunge und "Sunshine Live" im Herzen. Damit war die Nature One bald der Beweis, dass Rave nicht urban sein musste. Nicht unterkühlt, nicht Berlin, nicht Club. Sondern: Schotter, Zeltplatz, Generatorenromantik. Dazu ein Pyrotechnik-Finale wie aus einem Roland-Emmerich-Film, nur ohne Katastrophe. Oder vielleicht genau mit.

Time Warp: Mannheim, Frauheim

Time Warp begann 1994, nicht in Frankfurt oder Berlin, sondern in Ludwigshafen, zwischen Kühlhausästhetik und Autobahnausfahrt. Der erste Flyer: blassblau, sachlich, fast schon klinisch. Kein Rave-Versprechen, sondern ein Statement für Kenner. Veranstalter war eine Agentur, die früh verstand, dass Techno mehr sein konnte als nur Party: ein kuratiertes Erlebnis, ein auditives Gesamtkunstwerk, tja. Während alle Herz an Herz ballerten, ging drüben in der Westphalenhalle das Licht aus: keine Blumen, keine Regenbogen.

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Dafür eher: stroboharte Musik von Leuten, die klangen, als hätten sie nie etwas anderes getan: Sven Väth, Chris Liebing, Monika Kruse – Deutschlands Antwort auf Detroit. Streng. Sicher stramm. Zumindest musikalisch. Das Line-up war wie ein Manifest: Wer hier spielte, musste dramaturgisch denken. Einbauen, aufbauen, zurücknehmen, zerlegen. Dementsprechend war das: Rave für Fortgeschrittene. Keine Jugendkultur, sondern Präzisionshandwerk. Eine Art technokratisches Berghain auf Wanderschaft. Ein Refugium für Leute, denen selbst die Mayday zu laut und zu bunt war.

Street Parade: Sauber sündigen in der Schweiz

Zürich ist die Stadt, in der selbst das Chaos ästhetisch ist. Und vielleicht war genau deshalb die Street Parade so anders als ihr Berliner Vorbild. Weil, auch hier tanzten Hunderttausende auf Trucks. Auch hier wurde "Love" großgeschrieben und "Parade" noch größer. Aber das Feeling war Schweizerisch. Besser organisiert. Eleganter. Sicher teurer. 1992 fing das an – als politische Demonstration gegen Repression und für elektronische Musik. Zehn Wagen, 1.000 Leute, heute waren alle dabei. Dann explodierte es bald: Heute kommen über eine Million an den Zürichsee.

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Nicht für Käsefondues oder Raclettebrote. Sondern für dieses eine Event. Muss man verstehen: Die Street Parade war nie ein Straßenkinder-Festival, sondern haute couture auf MDMA. Designerkleider statt Schlaghosen. Wer also heute von "europäischer Clubkultur" redet, darf Zürich nicht vergessen. Die Street Parade war nie das wilde Herz – aber sie war so was wie die Hauptschlagader. Sauber, rhythmisch, unverzichtbar.

Gasometer: Wien tanzt im Gasbehälter

Bevor die Gasometer als Shoppingcenter aus einem Architektur-Workshop hervorgingen, waren sie ausrangierte Gasbehälter, also: ziegelrund, mit viel Luft nach oben. Und damit eine der geheimnisvollsten Ravelocations Europas. Mitte der 90er war Wien nämlich noch nicht Berlin. Wien war einfach Wien: grantig, grau und … na ja, vor allem grau und grantig. Die Gasometer-Raves nennen manche, die behaupten, dabei gewesen zu sein: legendär. Vermutlich weil sie illegal waren.

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Oder halblegal. Oder einfach ... nicht ganz offiziell. Es war eine Zwischenwelt – Technoraves zwischen Hardcore und eisernem Vorhang. Wien hatte nie die ganz große Masse. Aber Wien hatte Haltung. Labels wie Cheap Records oder Pomelo, Produzenten wie Patrick Pulsinger oder Gerhard Potuznik – Leute, die nicht nach Ibiza schielten, sondern nach Sheffield oder Detroit. Und das spiegelte sich auch im Gasometer: dumpf, derb. Ein Ort, der heute unvorstellbar wäre.

Weiter geht es in Jahreszahlen und langsam ran zu den 2000ern-Rave-Videos.

Veröffentlicht in Features und getaggt mit 90s Rave , Love Parade , Mayday Festival , Nature One , Spiral Tribe , Street Parade , Time Warp

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