90s und 00s: Diese Rave-Videos beamen zurück in die Vergangenheit

90s und 00s: Diese Rave-Videos beamen zurück in die Vergangenheit

Features. 29. Januar 2024 | 4,8 / 5,0

Geschrieben von:
Christoph Benkeser

Während der Pandemie feierte ich in einem Club in England, auf der Mayday in Dortmund und vor dem Omen in Frankfurt. Ich stand in einem Technokeller in Minneapolis und sah dabei zu, wie Aphex Twin die Crowd mit Techno wegballerte. Ich spürte die Bässe. Atmete den Geruch von Trockeneisnebel ein. Nahm mit geschlossenen Augen die Blitze der Stroboskope wahr. Das alles ohne vor Ort zu sein. Ich saß zu Hause, verbrachte die Isolation ohne Hose im Homeoffice und versank in der Vergangenheit. Nicht in meiner eigenen, sondern in einer, die ich nie erlebt habe.

Schließlich war ich weder dabei, als Marco Zaffarano in einem Technoclub im Norden Englands die Silvesterparty 1994 mit Acid auflöste noch stampfte ich 1998 meine Füße mit Sven Väth in den Boden vor dem Parkhaus in der Junghofstraße. Ich war noch nie in Dortmund und werde dort nie sein. Trotzdem fühlte es sich an, als wäre ich bereits da gewesen. Als hätte ich das alles erlebt – Loveparade, Omen-Closing, Gasometer Wien. Ich wusste nicht warum, aber wollte mehr. Und der YouTube-Algorithmus lieferte.

Natürlich sehnte man sich danach, in der Dunkelkammer zu schwitzen. Während Subwoofer schlummerten und Dancefloors verstaubten, dachte man zurück – an zwei Jahre Jahre ohne Gewummer, die Energie des Augenblicks, das unerklärliche Gefühl, dass hier und jetzt gerade alle dasselbe wollen. Im Raum. Ohne Maske. Während Körper aufeinandertreffen. Und man sich durchdringt.

Vielleicht begann ich deswegen, mich während der Pandemie zu geißeln. Mich in einer Art Masochismus durch Clubs, Festivals und Gigs aus der Vergangenheit zu klicken, die ich nie betreten oder besucht habe. Hardcore-Raves von 1997, Viva-Fernsehen auf Ecstasy, Marusha bei der Mayday 94 – alles, was in den Vorschlägen auf YouTube landete, musste ich sehen. Meine Timeline wurde zum K-Hole. Ich entwickelte eine Obsession nach dem Gewesenen. Einen Drang, mich zurückzubeamen. Die Uhr zurückzustellen und Momente zu erleben, die ich nie erlebt habe, aber doch sehen konnte. Vor mir, auf dem Bildschirm. Wie aus der Zeit gefallen.

Ich wusste, dass ich in die Nostalgie-Falle getappt, oder eher: freiwillig hineingehüpft war. Schließlich wollte ich diese Videos nicht wegklicken, sondern konnte mich darin auflösen wie Kristalle in Cola. Ohne Hose im Homeoffice zwar, aber mit dem Vertrauen, dass ich zuerst in die Vergangenheit dieser Clips blicken muss, um die Zukunft anzunehmen.

Nennt mich verklärten Träumer oder nostalgischen Romantiker – ich glaube in diesen Videos etwas gefunden zu haben, das sich nicht mit Kommentaren wie „Früher war alles besser“ in ein depressives Tal der Tränen wirft. Man empfindet etwas, das man nicht erlebt haben muss, um es tatsächlich zu fühlen. Eine Hoffnung, die aus der Tatsache entsteht, dass alles vergeht – aber gerade deswegen immer auch weiter geht. Als „kritische Nostalgie“ hat die Anthropologin Shannon Lee Dawdy diesen Rückblick bezeichnet. Man schaut zwar zurück. Nicht aber, um sich eine Welt wie früher zu wünschen, sondern um eine politische Ästhetik zu erkennen, in der politische Wirkkraft zu finden sei. Diese Kraft entspringt der Aufmerksamkeit, die man Dingen entgegenbringt; die einen zeitlichen Raum öffnen, in dem etwas passiert.

Vergangenheit und Gegenwart verbinden sich. Das Gewesene aktualisiert sich im Jetzt, indem man eine Spur des Vergangenen wahrnimmt, sie im Moment verfolgt, abgleicht – und den Bezug zwischen heute und damals herstellt. Dieser Bezug ist gebunden an die Erinnerung, man reist durch die Zeit, überspringt räumliche Grenzen, die sich immer in Bezug auf eine Vergangenheit – ob man sie nun erlebt hat oder nicht – beziehen, sie durchdringen und in die Jetzt-Zeit des Erlebnisses beamen. Zwischen Aufnahmen aus irgendeinem Technokeller in den USA und der Loveparade in Berlin habe ich während der Pandemie neue Hoffnung gefunden. Für eine Zukunft, die nicht wie früher ist und trotzdem weiß, wo sie herkommt.

Dr. Motte hat bei der Loveparade 98 was zu sagen

Doktor – bitte verteilt keine Flyer – Motte hält bei der Loveparade 1998 ein Impulsreferat mit dem Charisma eines pensionierten Geografielehrers, der den Kids von damals etwas vom „blauen Himmel, den grünen Bäumen, bunten Blumen und Flüssen“ erzählte. Wenn die Generation X heute also so tut, als hätte sie von der ganzen Klimasache nichts gewusst, hat sie recht, weil: bei der nervösen Stammelei blieb nur eine Sache hängen: „Hallo, könnt ihr mich hören?“

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Aphex Twin sucht den Bildschirmschoner in Paris 1993

Stell dir vor, du gehst auf einen Rave – und plötzlich sitzt ein Typ auf der Bühne, der hinter einem felsengroßen Computer-Bildschirm in vollkommener Versunkenheit den ärgsten Techno rauspumpt. Wüsste man es nicht besser, man könnte glauben, Richard D. James sei ein verrückter Wissenschaftler, der Daten in Excel-Listen drischt, während um ihn ein Gewitter aus Lasern und Stroboskopen niederprasselt. Madness hoch drei. Und der Beweis, dass Techno heute wirklich tot ist.

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Sven Vath mahlt auf der Loveparade 2000

In diesem Video kommen so viele Dinge zusammen, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll. Viva sendet von der Loveparade. Techno ballert ohne Breaks und 08/15-Build-Ups. Und Sven Väths Kiefer schiebt nach vorne wie ein Achtzehntonner auf der Autobahn zwischen Augsburg-West und München-Eschenried. Keine Ahnung, wie er das gemacht hat. In dem Zustand qualmt man Zigaretten in zwei Zügen runter, fragt verpeilt nach Wasser und verwandelt Kaugummis in Pulver. Väth kaut. Und legt auf. Platte für Platte. Bänger für Bänger. Die Rückseite seines Shirts hat er davor für Pillen vercheckt. Fairer Deal. Was für eine Show.

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Marusha und The Raving Society

Marusha, 1994, Mayday. Ein Set, das mit eingeschalteter Lichthupe und 170 Sachen über die linke Spur donnert. Trance, Techno, Happy Hardcore – alle gehen ab. Klar, Viva hat das Ding übertragen. Ohne Jamba-Sparabo und Epilepsie-Trigger-Warnung, dafür mit Lucy in the Sky with Diamonds. Wer auch immer für den Schnitt dieses Videos verantwortlich war, hatte an dem Tag die Ritalin-Tabletten vergessen. Oder mit dem guten Zeug vertauscht. Wer sich richtig alt vorkommen will, linst in die Comments: „Damals wurde ich infiziert, geil und jetzt mit 40 Lenzen immer noch am zabbeln hier in der Bude.“

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Das Omen macht dicht

Das Beste am Ende des Frankfurter Omens sind die Kommentare, die darüber 20 Jahre später ins Internet geschrieben werden. Es ist ein Planschbecken voller Männertränen. Vergossen wegen der eigenen Vergänglichkeit, einer verwaschenen Erinnerung an früher und „David-Guetta-Plastikmüll“. Dass manche Leute, die damals vor dem Omen auf der Straße tanzten, inzwischen ihre einzige Erfüllung in einem Kasten Hasseröder Premium Pils und dem Verfassen von Kommentaren wie „Das war noch leben, 90er forever“ finden, ist eine böse Unterstellung. Aber vermutlich die Wahrheit. Doch Vorsicht ist geboten: Vor lauter alte-weiße-Männer-Voyeurismus könnte man verpassen, wie Sven Väth in schicken Neon-Shorts und Nike-Tanktop den Bademeister aus der Junghofstraße gibt. Großes Kino. Oder wie ein User schreibt: „Endlich mal normale Leute.“

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Viva war Viva, weil Viva war

Wer mit Tamagotchis, Gülcan und Bravo-Hits-CDs in die Pubertät schlitterte, hat die wirklich bekloppten Zeiten vermutlich verpasst. Viva ging 1993 on air. Damals war Techno das nächste Ding. Und politische Korrektheit eine Wortkombination, von denen höchstens Soziologie-Studis träumten. Den Pitch zum Sendungstitel von „Housefrau“ würde man nachträglich trotzdem gerne hören. Mate Galic moderierte mit Sabine Christ. DJs legten auf. Peinlich war das immer – so wie die Übertragungen von der Mayday in Dortmund. Dort mischte Galic wie ein Alt-Punker auf Speed mit, bekam mit Heike Makatsch aber so etwas wie die aufgedrehte Schwester an die Seite gestellt, die endlich auch mal feiern wollte, dabei aber von allem zu viel einatmete und „Resonanz, Resonanz!“ ins Mikro brüllte. Jugendfernsehen zur Peaktime. Wer tauscht gegen Böhmermann?

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WestBam zerlegt das Gasometer 1998

1998, WestBam in Wien. Bei der letzten Party im Gasometer, einem ausrangierten Gas-Panoptikum, drei Mal so hoch wie das Berghain und später „revitalisiert“, soll heißen: für Menschen mit genügend Asche umgebaut. Der gute Bäm labert beim Interview von Gong-Gong-Gong-Delay, fliegenden Untertassen und dem wahren Leben. Spielt danach aber ein Set, bei dem sich der Bautrupp die Abrissbirne hätte sparen können. Das „Gazometer“ war danach nie mehr dasselbe, die Jugend durfte scheißen gehen – mit dem Clip schießt man sich trotzdem nach Shamballah!

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DVS1 zerlegt einen Club in Minneapolis

Minneapolis verbinde ich mit einem Namen: DVS1. Jahre bevor ihn Ben Klock auf sein Klockworks-Label holte, spielte der Mann in seiner Heimatstadt auf Raves, vercheckte Pillen und ging dafür in den Knast. Dass er die Kurve durch Techno schaffte, ist Ironie. Aber kein Wunder. Und das sieht, hört – und spürt man. Die Aufnahme soll 2000 in einem Club in Minneapolis entstanden sein. Man muss der Person für ihre ruhige Hand danken – wer bei dem Geballer in der Lage ist, länger als zwei Sekunden still zu halten, sollte eine Karriere in der inneren Chirurgie anstreben – und sie gleichzeitig verteufeln because: Wie kann man bei dem Geballer länger als zwei Sekunden stillhalten!

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Marco Zaffarno gießt zu Silvester Acid

Keine zwei Minuten dauert dieser Clip aus dem The Orbit, Morley im Norden Englands. In den 90ern sei das die Adresse gewesen für Techno. Aber vor allem für Partys, die donnerstags begannen und mittwochs endeten. Wer sich den Silvesterabend von 1994 gibt – Stuttgarter Väth-Spezi Marco Zaffarano rattert die Acid-Line – weiß auch, wieso. Der Sound verzerrt, im Video blitzen Laser durch die Dunkelheit. Das Licht geht an, der Countdown beginnt: Five, four, … Peng! Knallfrösche im Club. Blackout. „Wish I had a time machine.“

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Veröffentlicht in Features und getaggt mit Aphex Twin , Dr. Motte , DVS1 , Frankfurt Omen , Gasometer , Loveparade 1998 , Loveparade 2000 , Marco Zaffarno , Marusha , Mayday , Mayday 1994 , Minneapolis , Rave , Raving Society , Sven Väth , The Orbit , Viva , Westbam

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