Corona-Raves: Wie viel Sinn macht Feiern während Covid-19?

Corona-Raves: Wie viel Sinn macht Feiern während Covid-19?

Features. 11. Oktober 2020 | / 5,0

Geschrieben von:
Christoph Benkeser

Nina Kraviz hüpft hinter Plattenspielern im Club, Dax J postet ein Flugzeug-Selfie mit Maske unterm Kinn, Héctor Oaks mixt auf Gigs zwischen Frankreich und Spanien, um Leute „zu heilen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen“ – ohne Mund-Nasen-Schutz und vor einem Publikum, das ohne Abstand zueinander tanzt. In den letzten Wochen tauchten immer wieder Videos auf, die bekannte DJs auf illegalen und legalen Partys zeigen. Sie spielen in überfüllten Clubs und auf Open Airs ohne Social Distancing. Und in Ländern, die wegen steigender Covid-19-Infektionszahlen wieder auf strenge Maßnahmen setzen. Hört sich angesichts der aktuellen Situation verrückt an, passiert aber in ganz Europa. Die Frage ist: Welchen Grund gibt es, inmitten einer Pandemie auf Partys zu Techno abzugehen und hochbezahlte DJs um die Welt zu fliegen, während sich immer mehr junge Leute anstecken und die kollektive Verantwortung zugunsten individueller Bedürfnisse in den Boden stampfen?

Die einfache Antwort wäre: keinen. In vielen europäischen Ländern steigen die Zahlen der Corona-Neuinfektionen. Derzeit stecken sich junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahren deutlich häufiger an als ältere. In Deutschland verzeichnet man zuletzt mit teils über 4000 Infektionen pro Tag Werte, die zuletzt im April erreicht wurden. Das Ding ist: Für viele ist das Virus kaum mehr präsent, jüngere Menschen zeigen seltener Symptome und treffen sich öfter und in größeren Gruppen als andere Altersgruppen. Außerdem, so ein gängiges Argument, habe man irgendwo gelesen, dass nicht die Zahl der Fälle entscheidend sei, sondern die Zahl der Toten. Und überhaupt werde doch viel mehr getestet als vor zwei Monaten. ExpertInnenmeinungen seien zwar gehört und gelesen aber wieder verdrängt worden, weil: Klingt nach Vernunft, Verstand und – gähn! – Spießigkeit.

Raver plague?

In der Clubszene ist dafür kein Platz. Ein Kulturzweig, der auf dem kollektiven Rausch von Menschen basiert, die unter Tage zu Bässen schwitzen, war auch vor der Pandemie mit Herausforderungen konfrontiert. Viele Leute, geteilte Liebe, die Hitze am Dancefloor – ein Begriff wie „Raver plague“ steht nicht umsonst seit 2009 im Urban Dictionary. Allerdings war dabei bisher von keiner Pandemie die Rede. Das hat sich geändert. Sechs Monate sind seit den ersten Fällen in Europa vergangen, die Grenzen sozialer Verantwortlichkeit verschwimmen und der moralische Konflikt zwischen #wirbleibenzuhause und dem Drang, wieder im Club zu tanzen, wird zunehmend größer. Bis zu 54 Events finden teilweise allein an einem typischen Wochenende in Berlin statt. Alle unter freiem Himmel, wie im Garten des Berghains, vor dem ://about blank oder in der Else. Mit Hygienekonzept und Abstandsregeln und bis 23 Uhr ist das erlaubt: Bis zu 5000 Leute dürfen bei Outdoor-Veranstaltungen teilnehmen – noch.

© Urban Dictionary

Wer mit VeranstalterInnen spricht, hört oft ein Argument: „Wenn wir nicht die Möglichkeit haben, legale Partys zu organisieren, werden die Leute illegal feiern“, sagt Gerald VDH, DJ und Veranstalter der Techno-Reihe Meat Market in Wien. Zusammen mit dem größten Club der Stadt, der Grellen Forelle am Donaukanal, hat er schon im Juni ein Sicherheitskonzept erarbeitet. 23 Seiten umfasst das Dokument, das mit Time-Slots und Fiebermessen am Eingang über eingeschränkten Barbetrieb, Masketragen und Awareness-Teams am Dancefloor für „vernünftiges Feiern“ argumentiert. Das Regelwerk ist lang, aber: „In der Aufbereitung klingt das härter, als es ist“, so der Veranstalter.

„Save Rave“, nennt Gerald VDH den Versuch, den Club auch während einer Pandemie unter Auflagen zu öffnen. Gestaffelte Einlasszeiten, Abstandspflicht, Fiebermessen und Contact Tracing mit Namen und E-Mail-Adresse gehören genauso dazu wie das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes. Regeln, die mehr an eine Operation am offenen Herzen erinnern als an eine Techno-Party im Club. „Social Distancing hat Grenzen“, sagt Gerald VDH und bezieht sich auf ein natürliches Grundbedürfnis des Menschen nach Feiern. Dass er sich als Veranstalter differenzierter und inklusiver Partys auf deren kategorischen Essentialismus bezieht, ist für ihn kein Widerspruch, sondern vertretbares Risiko.

Verantwortung oder Bedürfnisbefriedigung?

Allerdings: Partys sind nicht systemrelevant und das Feiern im Club kein Naturgesetz. Selbst beste Vorkehrungen können nicht ausschließen, dass Fehler passieren. Das Risiko lässt sich nur minimieren, nicht ausräumen. Was die Frage offenlässt, wieso man – angesichts der aktuellen Situation – die gesellschaftliche Verantwortung an der Garderobe abgeben sollte, um sie gegen ein paar Stunden individueller Bedürfnisbefriedigung einzutauschen?

Dass viele wieder feiern wollen, ist verständlich. Der Sommer war lang, die Isolation des sogenannten Lockdowns saß noch in den Knochen, der Drang nach Eskapismus dringender denn je. Wer sich heute an seine letzte Clubnacht erinnern kann, ging damals zu früh nach Hause und bereut das vermutlich noch immer. Schließlich fehlt der Club als Ort des temporären Ausbruchs aus der Realität. Er fehlt als Raum der individuellen Möglichkeiten, der kollektiven Ekstase und als genereller Safe Space für Menschen, die sonst keinen haben. Gleichzeitig schiebt sich Corona wie eine unsichtbare Decke über die Vorstellung, wieder durch die Nacht zu tanzen, Nachtbekanntschaften zu pflegen oder sich für ein paar Stunden auf der Tanzfläche zu verlieren. Deshalb verlagerten sich die Feiern ins Freie – und in die Illegalität, mit teils schwer vertretbaren Konsequenzen.

13 Leute starben im August bei einer Feier in Lima, nachdem die Polizei das Gelände räumen wollte. In Oslo mussten Ende August über 25 Personen mit Kohlenmonoxid-Vergiftung ins Krankenhaus. Das als „rave cave“ organisierte Event fand in einem Bunker statt, die Diesel-Generatoren standen im Nebenraum, ohne Abzug. In New York kam es auf einer illegalen Party Mitte September zu einer Schießerei: zwei Leute starben, 14 landeten im Krankenhaus. In England fanden über die letzten Wochen in mehreren Städten unangemeldete Raves statt. Das Ergebnis: festgenommene VeranstalterInnen, verletzte PolizistInnen, Müllberge wie bei einem Mini-Festival. Letzteres traf auch auf illegale Partys in der Berliner Hasenheide zu. In manchen Nächten feierten 3000 Menschen, die Reinigungskosten beliefen sich auf 88.000 Euro.

Plague Raves

To be fair: Bei vielen dieser Events handelte es sich um „unorganisierte Zusammenkünfte“, soll heißen: Kleine Events, wenig Leute, überschaubares Risiko ohne kommerzielles Interesse. Wirklich interessant wird es erst, wenn man sich Videos zu Gigs von sogenannten Top-DJs aus der Techno-Szene ansieht. So spielte Amelie Lens Anfang August auf einer illegal organisierten Veranstaltung in Paris. Das Video zeigt, wie hunderte Leute dicht zusammenstehen, kaum jemand trägt eine Maske, obwohl die Veranstaltungsankündigung mit einer „No mask, no entry“-Policy beworben wurde. Dax J scheuchte am 15. August mit Baller-Techno einen Club auf Pula in Kroatien auf. Der aufgenommene Ausschnitt ist verwackelt und finster. Man erkennt viele Leute auf wenig Fläche. Ein anderes Video zeigt Héctor Oaks, der beim Hypersonic Festival in Tbilisi, Georgien einen Placebo-Trance-Edit spielte – Open Air und legal organisiert, aber: „Imagine risking your and other's health for music that shit“, wie ein User kommentierte.

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Der Hashtag „plague rave“ kursiert seitdem für Veranstaltungen dieser Art auf Twitter. Dort dokumentiert auch der Account „businessteshno“ Videos, die zuvor in sozialen Medien landeten. Eine aktualisierte „Plage Rave Covid-19 Shitlist“ zeigt außerdem auf, wer wann und wo gespielt hat, welche Sicherheitskonzepte für die Events vorlagen – und ob sie eingehalten wurden. Die Namen der DJs aus den Resident Advisor Top 1000 DJs, die während der Sommermonate auf größeren Events aufgelegt haben, liest sich dabei wie das Line-up vom letzten Tomorrowland. Kritik an Veranstaltung und DJ wird mit Bezug auf „positives Feedback“ aus der Community abgetan.

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Für die Szene?

Manche demaskieren sich durch Rechtfertigungen, zum Beispiel via Twitter, selbst. Schließlich drehe es sich „um die Musik“. Wer hier nicht fünf Herz-Emojis rausdrückt, versprüht keine „pOsItiVeN vIbEs“. Und darauf scheint es anzukommen. Sich mit belanglosen Verweisen auf eine „Szene“ zwischen House und Techno zu beziehen, um von der Realität abzulenken, dass dieser Techno und dieser House keine Rücksicht auf Solidarität, Gemeinschaft und Toleranz im Underground nimmt, sondern sich auf das Risiko von Infektionen und Todesfällen einlässt.

„Wir alle vermissen das Auflegen“, schrieb Techno-Produzent Dave Clarke in einem Facebook-Posting. „Aber bei solchen Events als international angesehener DJ zu spielen, hat unsere Szene bei den Leuten in Verruf gebracht, die ohnehin nach Gründen suchen, uns Steine in den Weg zu legen.“ Es gehe diesen DJs nur um Ego und Kohle, so Clarke, der sich von „dieser Szene“ distanziert. Der Bezug auf sie verkomme zu einem Vorwand, um eine Community zu legitimieren, die es gar nicht gebe. Schließlich beziehen sich zur Legitimation ihres Tuns viele auf den Spirit der Underground-Raves zu Beginn der 90er. Der Unterschied: Damals musste Techno wirklich Raum für sich beanspruchen. Heute geht es nur darum, während einer Pandemie die Kick-Drum zu spüren – oder wie der Musikmanager Mike Ziemer sagt: „Hört auf, euch auf die Vergangenheit zu beziehen, um die Zerstörung unserer Zukunft zu rechtfertigen.“

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DJs, die seit Jahren von dem System profitieren, waren die ersten, die wieder vor einem Publikum hinter den Decks standen – in Italien, in Spanien, in Ländern, die von der Pandemie stark betroffen waren und sind. Sie hatten eine Wahl, ob sie bei diesen Events spielen oder nicht. Und viele entschieden sich dafür. Obwohl sie durch ihre Bekanntheit und Reichweite eine Vorbildwirkung auf andere haben. Obwohl sie finanziell abgesichert sind. Obwohl selbst als „save Raves“ deklarierte Veranstaltungen keine endgültige Sicherheit bieten können. Wie auch? Die Pandemie hat sich nicht in Luft aufgelöst, manche fürchten eine „zweite Welle“ und nur weil man nicht zur Risikogruppe gehört, sollte man die eigene Verantwortung nicht einfach abstreifen wie ausgelatschte Sneaker nach der After-hour. DJs, VeranstalterInnen, Venues und Agenturen, sie alle sind von den Folgen der Corona-Pandemie betroffen, stehen unter finanziellem Druck, wollen raus aus der Isolation. Ihre Probleme sind real, dürfen aber nicht als Argument herhalten, um Menschenleben zu gefährden.

Das ist die unbequeme Realität. Das sind die Fragen, die man sich stellen muss: Kann man es mit den eigenen Prinzipien vereinbaren, auf Partys zu feiern, die die Normalität einer prä-Corona-Clubnacht suggerieren, aber mit Einschränkungen permanent an die Ausnahmesituation erinnern? Oder steckt man die individuellen Bedürfnisse für weitere Monate zurück, um der kollektiven Verantwortung innerhalb einer Gesellschaft gerecht zu werden? Klar, niemand hat mehr Bock auf Streaming-Sets, alle wollen in persona feiern. Allein: Eine normale Nacht in einem Club wird es so schnell nicht geben. Jene AkteurInnen, die das kapitalistische Techno-System über Jahre vorantrieben und bereits vor der Pandemie fünfstellige Summen für Auftritte verlangten (oder zahlten!) wären nun gefragt, um die „Szene“ zu retten, auf die sie sich in ihrem Verhalten beziehen. Bis dahin warten wir auf eine Clubnacht, die ihren Namen verdient.

Veröffentlicht in Features und getaggt mit Amelie Lens , Berlin , Business Teshno , Corona , Corona-Raves , COVID-19 , Dax J , Gerald VDH , Grelle Forelle , Hasenheide , Hector Oaks , Nina Kraviz , Plague Raves , Raver Plague , Urban Dictionary

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