Essentials: Fotobücher aus Techno & Clubkultur

Essentials: Fotobücher aus Techno & Clubkultur

Features. 21. März 2021 | / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Ob Standardwerke, Belletristik oder Techno-Autobiographie: Unsere Essentials-Serie stellt die wichtigsten Bücher rund um Techno, House und DJing vor. Übrigens: Wir haben in diesem Artikel so oft es geht Affiliate-Links zum Buchhandel Buch7 eingefügt. Buch7 spendet 75% des Gewinns an soziale, kulturelle oder ökologische Einrichtungen und bietet gleichzeitig alle gewohnten Annehmlichkeiten großer Versandhandel wie Amazon und Co. Informationen dazu bekommt ihr hier.

Der Sound, die Lichter, die Gerüche: Rave hängt immer vom sinnlichen Erlebnis ab. Das lässt sich weder im Film noch in der Literatur gut beschreiben und nur selten fotografisch in all seiner Wucht festhalten. Doch so gegenwärtig und zeitgenössisch sich Techno und House auch immer gegeben haben: Die Communitys um die Musik herum legen viel Wert auf Geschichte und damit auch die Dokumentation all dessen, was sonst nur am eigenen Leib erfahren werden soll. Fotografien sind deshalb ein wichtiger Bestandteil der Geschichtsschreibung einer ansonsten sehr zukunftsorientierten Subkultur.

Aber Fotos stellen auch ein Problem dar, weil sie gegen eines der Grundgesetze der Rave-Kultur verstoßen: Bist du erst einmal durch die Tür eingetreten, behält der Club alle deine Geheimnisse für sich. Je weiter sich fotofähige Mobiltelefone verbreiteten, desto rigider wurden deshalb einige Clubs, allen voran das Berghain: Keine Fotos erlaubt! Und wer sich nicht daran hält, wird auch mal vor die Tür gesetzt.

Einerseits also ist Clubkultur von der eigenen Historisierung und den damit verbundenen Dokumenten besessen. Andererseits soll die schöne Flüchtigkeit erhalten werden. Es verwundert daher nicht, dass es durchaus einige Bildbände gibt, die sich mit Clubkultur quer durch alle Epochen beschäftigen: Disco von Albert Goldman brachte als Erstes eine Art Ethnografie des Dancefloors mit den passenden Fotos zusammen, Martin Eberles Temporary Spaces dokumentierte einen Ausschnitt aus zehn Jahren Berliner Techno-Treibens, Tilman Brembs‘ Over Rainbows verfolgte vor nicht allzu langer Zeit ein ähnliches Projekt und der jüngst per Crowdfunding finanzierte Band Electronic Landscapes setzte der Szene der Motor City Detroit ein verspätetes Denkmal.

Nicht wenige Bildbände dieser und ähnlicher Art jedoch zoomen gar nicht direkt auf den Dancefloor direkt heran, sondern nehmen das Geschehen hinter den Kulissen in den Blick. Und obwohl es sich bei einigen von ihnen um aufwändig gestaltete Produkte handelt, sind sie überwiegend vergriffen. So auch einige der sechs essenziellen Fotobücher über Techno, House und das Drumherum, die wir hier zusammengestellt haben: Manche von ihnen sind mittlerweile (zu Recht) heiß begehrte Raritäten.

Raving ‘89 (2009) von Neville & Gavin Watson

Wo anfangen? Nicht wo, wann! Und dann am besten mitten im Getümmel. Neville und Gavin Watson veröffentlichten ihr Fotobuch Raving ‘89 über die Website www.DJhistory.com, die von Bill Brewster und Frank Broughton betrieben wurde, den Autoren von Last Night a DJ Saved My Life. Das allein ist Qualitätsmerkmal genug, die Geschichte der Watson-Brüder darüber hinaus ähnlich faszinierend wie ihre Schwarz-Weiß-Schnappschüsse aus dem Trockeneisnebel: Ursprünglich gehörten die beiden der Skinhead-Subkultur an, fanden sich aber sehr schnell mit geweiteten Pupillen und gezückter Kamera mitten im Treiben des Second Summer of Love wieder.

Raving ‘89 (2009) von Neville & Gavin Watson.

Anlässlich dessen 20. Jubiläums veröffentlichten sie mit Raving ‘89 ein Buch, das vor allem eins bietet: Action, Action, Action. Druffis, Drunks und Cops schmiegen sich in dem mittlerweile heißbegehrten Buch aneinander. Eindrücklicher sind lediglich Dave Swindells’ Fotos dieser Tage, welche in Spirit of Ibiza ‘89 oder Sheryl Garratts exzellentem Rave-Geschichtsbuch Adventures in Wonderland in den grellsten Farben von den Exzessen dieser legendären Sommernächte zeugen.

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Mydriasis (2018), herausgegeben von Irwin Barbé

Überhaupt: Exzess! Wo ein Rave ist, da ist die Mydriasis nicht weit. Die was, bitteschön? Na, die „Weitstellung der Pupille über einen Durchmesser von 5 Millimeter hinaus“. MDMA-Augen eben! Irwin Barbé vom französischen Grafikdesign-Studio Service Local kuratierte im Jahr 2018 unter dem Titel Mydriasis eine Anthologie, die Bilder von professionellen Fotografinnen und Fotografen neben denen von Freizeit-Party-People, DJs und anderen Szenegestalten stellte.

Mydriasis (2018), herausgegeben von Irwin Barbé.

Entstanden waren die Einsendungen von rund 40 Personen in einem Zeitraum von über sechs Jahren aus der ganzen Welt – auf Clubtoiletten genauso wie auf Outdoor-Festivals und beim Aftern mit Blick über eine Metropole im Morgengrauen. Das genau verleiht dem streng limitierten und ebenfalls bereits vergriffenen Buch einen inhärent zeitlosen Charakter: Was hier gezeigt wird, ist nicht etwa jenes Festival oder dieser Club – sondern die Essenz eines Lifestyles.

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Berlin Wonderland: Wild Years Revisited, 1990-1996 (2014), herausgegeben von Anke Fesel und Chris Keller

Mit Berlin Wonderland: Wild Years Revisited, 1990-1996 präsentierten Anke Fesel und Chris Keller von der Fotoagentur bobsairport im Jahr 2014 ein streng historisch ausgerichtetes Projekt, das nicht minder ansteckend ausfiel. Die Fotografien von unter anderem Ben De Biel dokumentieren ein Alltagsleben in dem Ausnahmezustand, der sich nach dem Fall der Mauer bot. Sie werden von persönlichen Erinnerungen der Beteiligten ebenso begleitet wie von konkreten Hintergrundinformationen, die eine geschichtliche Einordnung des Abgebildeten erlauben. Auch wenn hier wie in Raving ‘89 alles in Schwarz und Weiß gehalten ist: Bunter könnte dieses Berlin Wonderland kaum sein, auch wenn es eher die alternative Kultur- und Kunst-Community dieser Tage als konkret die Clubszene in den Fokus nimmt.

Berlin Wonderland: Wild Years Revisited, 1990-1996 (2014), herausgegeben von Anke Fesel und Chris Keller

Deutlich Musik- und Rave-konzentrierter fiel der Nachfolgeband Berlin Heartbeats: Stories From the Wild Years, 1990-present aus, der neben Bildern von Sven Marquardt, Markus Werner und Ute Mahler auch Interviews mit Szenemitgliedern wie Robert Lippok oder Dimitri Hegemann bot. Und wer danach noch mehr Eindrücke von den Berliner Dancefloors über die Jahre bekommen möchte, muss sich auf die Suche nach einem Exemplar von Nachtleben Berlin: 1974 bis heute von Wolfgang Farkas und Heiko Zwirner machen, das bereits im Jahr 2013 erschien.

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No Photos on the Dance Floor! Berlin 1989 - Today (2019), herausgegeben von Heiko Hoffmann und Felix Hoffmann

Oder sucht doch gleich nach dem Buch, das stolze drei Jahrzehnte Techno-Geschichte in der Hauptstadt abzubilden verspricht und zugleich mit seinem Titel den perfekten Kommentar zum ewigen Widerspruch zwischen Dokumentationswillen und Fotoverbot auf den Hauptstadt-Floors abliefert. No Photos on the Dance Floor! Berlin 1989 – Today erschien begleitend zur gleichnamigen Ausstellung, zu deren Eröffnung im Sommer des Jahres 2019 sich eine dermaßen lange Schlange vor dem C/O Berlin bildete, dass selbst der Vorplatz vorm Berghain zu Silvester dagegen wie eine provinzielle Tankstelle kurz nach Mitternacht aussah.

No Photos on the Dance Floor! Berlin 1989 – Today (2019), herausgegeben von Heiko Hoffmann und Felix Hoffmann

Warum, das beweist lange nach der Finissage das Buch, für das die – übrigens nicht verwandten – Kuratoren Heiko und Felix Hoffmann internationale und regionale MusikjournalistInnen wie Philip Sherburne, Jan Kedves, Laura Aha oder den Groove-Chefredakteur Alexis Waltz um Texte baten. Zwischen Fotos wie denen von Martin Eberle aus seiner – vor geraumer Zeit ebenfalls im Buchformat erschienenen – Serie „Temporary Spaces“, Wolfgang Tillmans‘ schnappschusshaften Inszenierungen des Berghain-Treibens oder Sven Marquardts Schwarz-Weiß-Porträts stellt No Photos on the Dance Floor so nicht nur die jungen ChronistInnen der Szene wie etwa den Georgier George Nebieridze oder die nimmermüde Camille Blake vor, sondern ergänzt das eh schon bunte Gesamtbild durch Gedanken zum queeren Nachtleben der Stadt, eine Geschichte von Rave-Flyern und Essays zu allerhand ästhetischen Fragen.

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Sound Travels. DJs in Transit, Berlin 2012-2017 (2017) von Linus Dessecker

In seinem Anspruch bescheidener gestaltet sich Sound Travels. DJs in Transit, Berlin 2012-2017 von Linus Dessecker. Das Buch war als Teil eines Box-Sets erhältlich, das sich das Watergate zum 15. Club-Geburtstag schenkte, kann aber immer noch als Artist Edition direkt vom Macher bestellt werden. Ihren Anfang fand die Serie, weil der Fotograf als Fahrer für den Club arbeitete und bei der Gelegenheit die von ihm herumchauffierten DJs vor die Kamera bat. Klingt unspektakulär? Ist es auch – das genau ist das Tolle daran. Unter dem schlichten Cover werden die Porträtfotografien Desseckers lediglich mit den Antworten auf einen siebenteiligen Fragebogen umrahmt.

Sound Travels. DJs in Transit, Berlin 2012-2017 (2017) von Linus Dessecker.

Die Antworten der abgebildeten DJs allerdings fallen so unterschiedlich aus wie sie selbst. Sound Travels stellt Kittin vor den Fernsehturm, holt noch kurz Matthias Meyer und Sven Väth am Flughafen Tegel ab und lümmelt sich im nächsten Moment schon mit Kenny Larkin am Spittelmarkt auf einer Rasenfläche – samt Louis-Vuitton-Tasche, versteht sich. In seiner vordergründigen Banalität entmystifiziert Dessecker damit den DJ-Jetset und die Menschen hinter den Decks gleich mit. In Sound Travels wirkt selbst ein Omar-S wie der nahbare Kerl von nebenan.

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Backstage Tristesse (2014) von Sebastian Szary

Was DJs selbst so alles mit eigenen Augen sehen, das ließ uns Sebastian Szary schon drei Jahre vor der Veröffentlichung von Sound Travels wissen. Das Modeselektor-Mitglied setzte der bizarren Monotonie des Tourlebens ein schaurig-schönes Denkmal. Backstage Tristesse bietet genau das, was der Titel verspricht: Bilder von flaschenübersäten Holztischchen vor Ledercouches in verschiedenen Abnutzungsgraden, hin und wieder ein paar Schnappschüsse von gelangweilten Moderat-Mitgliedern und die eine oder andere traurige Obstschale.

Backstage Tristesse (2014) von Sebastian Szary.

Wie Desseckers Fotoprojekt ist Szarys aus Gewohnheit entstandene Serie vor allem als Entzauberung großer Mythen – Sex! Drugs! Techno! – zu verstehen, entfaltet im repetitiven Nebeneinander der sich bizarr ähnlichen Fotografien von Backstage-Räumen überall auf der Welt allerdings zunehmend eine surreale Poesie. Dröge Ansicht, tiefe Einsichten. Zufälliger ist wohl noch kein anderes Meisterwerk der Fotografie entstanden.

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