Aquarian im Porträt: Mein innerer Widersacher und ich

Aquarian im Porträt: Mein innerer Widersacher und ich

Allgemein. 24. Mai 2022 | / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Als Produzent und DJ ist Aquarian nur schwer zu kategorisieren. Kurz vor der Berlin-Premiere der A/V-Show zu seinem Debütalbum ‘The Snake That Eats Itself’ beim CTM Festival und der Veröffentlichung des zweiten Teils seiner neuen Doppel-EP auf Dekmantel trafen wir den Kanadier zum Gespräch. Wir bekamen ausführliche Antworten von einem, der mit seiner Musik essenzielle Fragen über die Konventionen von Dance Music stellt.

Wer Aquarian im Gespräch erlebt, wird diesen Eindruck vermutlich nicht so schnell mit der Musik des Produzenten zusammenbringen können. Angefangen von seinen ersten Releases für das New Yorker Label UNO NYC hin zu seiner jüngsten Veröffentlichung, einer Doppel-EP für Dekmantel, scheint in dieser ein kreatives Chaos zu regieren: Spurenelemente verschiedener Genres wirbeln durcheinander, reiben sich aneinander und stehen bisweilen im scheinbaren Widerspruch zueinander. Jeder seiner Tracks kommt folgenden Fragen gleich: “Was wäre, wenn …?” oder “Wieso nicht stattdessen so?”

Seine Musik mag dementsprechend wie ein überbordendes Wirrwarr klingen, das Konventionen höchstens ankratzt, anstatt sich ihnen zu beugen. Der Mensch dahinter ist jedoch ein sehr zuvorkommender und aufgeräumter. Er gibt im Gespräch bedachte und ausführliche Antworten auf Fragen zu seinem Werdegang, sortiert Geschehnisse immer wieder ein und moderiert jeden Gedanken, bevor er ihn ausspricht. “Um das klarzustellen, …” oder “Dazu müssen wir nochmal ein paar Jahre zurückgehen …” sind so Phrasen, die im Interview ständig fallen.

Wer bis an den Anfang der Geschichte Aquarians zurückgeht, findet sich in der kanadischen Provinz Ontario wieder. Geboren wird er in einer mittelgroßen Stadt mit dem eindrucksvollen Namen Thunder Bay, doch siedelt die Familie in seinem ersten Lebensjahr nach Toronto über. “Ich bin in einem portugiesisch-italienischen Viertel aufgewachsen, das an ein jamaikanisches und ein jüdisches Viertel grenzte – das fasst ganz gut zusammen, wie multikulturell Toronto ist, viel mehr noch als New York City oder London”, erklärt er.

Aquarian beschreibt sich als nerdiges Kind, das sich für Videospiele interessiert. Seine Mutter ist Klavierlehrerin und gibt auch ihm Stunden, irgendwann aber rebelliert er – und nimmt statt Notenpapiere Drumsticks in die Hand. “Ich weiß gar nicht mehr genau, warum ausgerechnet das Schlagzeug”, sagt er heute. “In jedem Fall aber hat mich das Druckvolle, die Körperlichkeit des Ganzen gereizt.” Elektronische, das heißt Tanzmusik, spielt zu dieser Zeit allerdings noch kaum eine Rolle in seinem Leben.

Ein mediales und kulturelles Durcheinander

Über eine seiner beiden älteren Schwester sickert allerdings nach und nach Musik von Bands wie den Deftones und schließlich auch The Prodigy zu Aquarian durch. Er wächst in ein mediales Durcheinander hinein, das auch ein kulturelles ist: Eben noch hatte er per Kassette Songs eines regionalen Alt-Rock-Radiosenders mitgeschnitten, jetzt schon jagt er in Peer-to-Peer-Netzwerken Trance-Remixen des ‘Matrix’-Soundtracks nach. Er beginnt selbst, Musik zu produzieren: Electronica. Oder zumindest das, was er zu dieser Zeit dafür hielt, wie er mit einem Lachen hinzufügt. DJ Shadow, Massive Attack oder Nine Inch Nails nennt als Inspirationsquellen, als DAW dient eine gecrackte Version von Fruity Loops.

Mit 18 Jahren nimmt Aquarian allerdings eine Auszeit von der Musik, konzentriert sich auf seine andere große Leidenschaft: die Fotografie. Auch zieht er für ein Jahr nach London, um für sich herauszufinden, was er eigentlich mit seinem Leben anfangen möchte – und endet immer wieder in den Clubs der Stadt. Dort sind Hybride aus Indie-Rock und Dance-Musik auf der einen, der sogenannte Bloghouse auf der anderen Seite der Sound der Stunde, derweil sich auch Dubstep auf dem Vormarsch befand. Für ihn markiert das einen Startschuss in ein neues Leben, zumindest in musikalischer Hinsicht.

“Zurück in Toronto ging es dann richtig los. Ich war ja mittlerweile über 18 Jahre alt und konnte zu regulären Raves gehen”, erinnert er sich. Er hilft bei der Organisation von einigen Veranstaltungen mit, die im Megaclub Circa stattfinden, und holt unter anderem an der Schnittstelle zwischen Indie-Welt und Rave-Kultur agierenden Acts wie Crystal Castles oder MSTRKRFT in die Stadt. “Der Club hatte sieben oder acht Räume und ich habe mich regelmäßig in den Drum’n’Bass-Raum geschlichen, manchmal spielten auch befreundete Dubstep-Crews dort.” Es ist ein Miteinander von Stilen und Interessen, das seine gesamte folgende Karriere als Produzent und DJ prägen soll.

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Zwei Persönlichkeiten …

Obwohl seine Erfahrungen in Toronto für ihn elektronische Musik wieder “rekontextualisieren”, wie Aquarian es ausdrückt, und er wieder mit dem Produzieren anfängt, steht weiterhin die Fotografie in seinem Fokus. Nach einigen Praktika zieht es schließlich für ein Fotografiestudium nach New York City. Dort schließt er allerdings viele Freundschaften in der Clubszene und wird schließlich mit dem damals noch recht jungen Label UNO NYC in Kontakt gebracht. Das passt: Jacques Greene, Fatima Al Qadiri, Arca und Mykki Blanco veröffentlichen darüber unkonventionelle Sounds, die Clubmusik von Grund auf neu denken.

Seine Debüt-EP ‘Obsidian’ ist Katalognummer 13 von UNO NYC, zwei weitere Singles folgen in den beiden Jahren danach. “Wenn ich mir die Musik anhöre, dann erkenne ich darin die Blaupause für mein späteres Schaffen”, erzählt er heute. “Es verläuft ein roter Faden von diesen Releases hin zu dem, was ich jetzt mache. Ich weiß nur nicht, ob mich das nicht zu einem langweiligen Produzenten macht”, lacht er. Es sind Momente wie diese, in denen er seinen inneren Widersacher zu Wort kommen lässt. “Ich habe zwei Persönlichkeiten in mir, die sich ständig miteinander streiten”, erklärt er. “Der eine ist ein Widerborst, der andere will die Anerkennung. Deshalb ist meine Musik niemals so fordernd, dass sie das Publikum komplett entfremdet, oder zumindest noch eingängig genug, dass sich dazu tanzen lässt.”

Aquarian kann sich in den Feinheiten verschiedener Subgenres versenken, ihre konstitutiven Elemente identifizieren und spielt doch immer mit ihnen, kombiniert sie mit Fremdmaterial oder rekontextualisiert sie, indem er sie mit den Klangsignaturen und maßgeblichen Rhythmen anderer Genres kombiniert. “Post-Dubstep war deshalb ein großer Einfluss für mich, weil darin viel zu hören war, das weder dem einen noch dem anderen zugerechnet werden konnte”, erklärt er diese Vorliebe in Hinblick auf sein eigenes Hörverhalten. Irgendwann morgens im Londoner fabric zu stehen und Ben UFO einen Trevino-Track auflegen zu sehen, der Acid-Gefiepe über einen donnernden Grime-Beat legt – das sind die Momente, die ihn als Produzenten und DJ inspirieren.

… in einem Außenseiter

In New York City allerdings findet er mit diesem rekombinatorischen Ansatz keinen Anschluss. Er habe eigentlich niemals DJ werden wollen, erklärt er mit einem Lachen. Auch wenn ihm das Auflegen allerdings dabei hilft, seiner Arbeit als Produzent nachzugehen und obendrein noch Spaß macht, passt er sich dennoch nicht den Trends der Stunde an. Als er seine ersten EPs veröffentlicht, dominiert der Sound des Berghains – düsterer, raumgreifender Techno – auch in New York den Diskurs. “Ich habe diese puristischen Szenen immer mitverfolgt, kam letztlich aber aus dem Umfeld von Außenseiter:innen wie Mykki Blanco oder Arca und war wohl schlicht zu weird.”

Aquarian bewegt sich stattdessen in alternativen Szenen, in denen Clubmusik nicht im Vordergrund steht. Mehr noch: Weil ihm ein Ruf als DJ mit einem harten Sound – Electro, Grime, Dubstep, Hardcore, Techno nennt er als Einflüsse, die auch heute noch seine Sets prägen – vorauseilt, wird er in der Regel für Closing-Sets gebucht. Was auch heißt, dass sich nach Zapfenstreich der Dancefloor leert.

Als er im Jahr 2014 eingeladen wird, einen Mix für den Podcast von Resident Advisor beizusteuern, hilft das seiner Karriere wider Erwarten nicht auf die Sprünge – im Gegenteil. “Danach kamen keine Bookings mehr rein und ich habe kaum noch gespielt”, erinnert er sich. Gebucht wird er vorrangig von Freund:innen, die aber bisweilen in anderen Genres unterwegs sind und ihn vor die Herausforderung stellen, sich dem Sound des Abends anzupassen. Es heißt aber auch, dass er sich zum Beispiel mit avancierteren Spielarten von House Music auseinandersetzt und seine Klangpalette nochmals erweitert.

Er habe sich in New York City als Außenseiter gefühlt und tut das immer noch. “Mittlerweile ist es aber nicht mehr so stark. Ich werde ja auch wieder mehr gebucht”, ergänzt er mit einem Grinsen. Obwohl es nicht gut läuft, wendet er sich ab dem Jahr 2015 vermehrt der Musik zu und hängt seine Karriere als Fotograf zwischen den Jahren 2017 und 2018 an den Nagel. Weil er allerdings keine Labels findet, die mit seinen Demos etwas anfangen können, gründet er sein eigenes: Hanger Management. “Das ist die story of my life: Ich sitze für eine ganze Weile auf dieser Musik und finde kein Zuhause für sie.”

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Scheuklappen in New York, ein Moshpit in Dublin und offene Ohren in Berlin

Das gilt auch für sein Debütalbum, ‘The Snake That Eats Itself’: Eines der Stücke ist bereits in Aquarians Mix für Resident Advisor zu hören, doch erscheint es erst im Jahr 2020 auf Bedouin. Es mutet ironisch an, dass zuerst ein New Yorker Label an dem Album Interesse zeigt und dann aber nicht mehr auf seine E-Mails reagiert: Im Titel, eine Anspielung auf das bereits aus der Antike bekannte Motiv des Ouroboros, drückt sich ein Gefühl der Verlorenheit aus, das er angesichts der New Yorker Szene und seiner Randstellung darin empfindet – eine Beklommenheit darüber, sich persönlich wie künstlerisch ständig im Kreis zu bewegen. "New York ist auf vielen Ebenen eine tolle Stadt, aber ich fand die Kultur dort ziemlich toxisch. Alles drehte sich um Bestätigung in Form von Geld oder Popularität", erklärt er

Das gilt auch für die Clubszene, in der eine ähnliche Scheuklappenmentalität vorherrscht. In diesem Sinne ist die LP nicht nur ein langer Brief zum kurzen Abschied, sondern genauso ein emanzipatorisches Statement. Hatten seine vorigen Releases noch Elemente von Techno, Electro oder Spielarten elektronischer Musik aus dem Hardcore Continuum zum Ausgangspunkt für cluborientierte Tracks genommen, sind die Klänge und vor allem die Rhythmen gedämpfter. “Ich wollte etwas ausprobieren, das nicht für den Dancefloor gemacht war. Meine Musik lief ja sowieso nicht auf den Dancefloors!”, erklärt er.

Zäh und düster, bisweilen schleppend langsam und in feinen Dosen aggressiv klingt dieses Album, das selbst in beatgetriebenen Momenten nur selten Zugeständnisse an Formen von Clubmusik macht. Das eben ist auch typisch Aquarian: Wenn seine Musik die Erwartungen nicht erfüllt, unterläuft er sie umso mehr.

Als ‘The Snake That Eats Itself’ Anfang 2020 erscheint, hat Aquarian mit dem Kapitel New York abgeschlossen und lebt bereits seit zwei Jahren in Berlin. Die Gründe für seinen Umzug sind mannigfaltig, vor allem aber verbindet er mit der Stadt und Europa im Allgemeinen mehr musikalische Offenheit. Schließlich hatte ihm schon sein erster Gig auf dem Kontinent die Bestätigung gegeben, dass sein eklektischer Auflegestil jenseits von New York gewürdigt wird: “Ich habe mit Laurel Halo in Dublin gespielt und einen Track von Pinch und Riko Dan aufgelegt – ein Moshpit brach aus!” Ein ähnliches Schlüsselerlebnis ergibt sich für ihn auf dem polnischen Festival Unsound: “Ich habe ganze Floors zu Musik durchdrehen sehen, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie überhaupt jemand mag. Das hat mir die Augen geöffnet.”

Mehr noch trifft er in Europa und Berlin auf offene Ohren. Er wird nicht nur wieder häufiger gebucht, auch sorgen zwei gemeinsam mit dem französischen Produzenten Deapmash unter dem Namen AQXDM veröffentlichte Kollaborations-EPs spätestens dann für Aufmerksamkeit, als sie ein gewisser Richard D. James in seine spektakuläre DJ-Sets einflechtet.

Variationen des Altbekannten

Als die Pandemie die Clubszene allerdings zum Stillstand bringt, widmet Aquarian sich einem Projekt, das er auf eine Art schon seit Jahren mit sich herumträgt: eine audiovisuelle Live-Show. Schon vor Jahren habe er darüber nachgedacht, seine Musik mit seiner eigenen Arbeit als Fotograf zu kombinieren, wäre da nicht ein Problem: “Ich habe einen Tunnelblick. Seitdem ich mich auf die Musik konzentriere, habe ich kaum noch fotografiert oder mit Video gearbeitet”, erklärt er.

Abhilfe verschafft die Künstlerin Sougwen Chung, mit der er seit seinen New Yorker Zeiten befreundet ist und die zuvor unter anderem mit Sepalcure zusammengearbeitet hatte. “Krasser könnte der Kontrast ja nicht sein”, räumt Aquarian ein. “Der Grundton des Albums unterscheidet sich auch von dem ihrer künstlerischen Praxis, die eher meditativ ist. Nicht unheimlich, aber irgendwie ätherisch.” Ihr gemeinsamer Arbeitsprozess ist deswegen einer des ständigen Ausprobierens und der gegenseitigen Annäherung, der von vielen Gesprächen genährt wird. Mittlerweile haben sie die Show, die trotz einigermaßen fixer Setlist Raum für Improvisationen lässt, mehrfach aufgeführt und präsentieren sie Ende Mai dieses Jahres auch auf dem CTM Festival erstmals in Berlin.

Ebenfalls während der Pandemie entsteht die zweite EP seiner aktuellen Doppelveröffentlichung auf dem niederländischen Label Dekmantel. Während ‘Mutations I: Death, Taxes & Hanger’ noch aus Stücken besteht, die Aquarian vor gut vier Jahren produziert und zuvor kein Label gefunden hatte – es ist eben wirklich die story of his life –, setzt sich ‘Mutations II: Delicious Intent’ aus Tracks zusammen, die auf jüngere Entwicklungen in vor allem der Berliner Szene reagieren. “Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass schneller Techno angesagt ist. Bis zu einem gewissen Grad finde ich das ja ganz gut, aber ich liebe es auch nicht”, erklärt er. “Es geht mir in meiner Musik aber nicht darum, bestimmte Stile nachzuahmen. Ich frage mich beim Musikmachen eher, wie sich die Dinge interessanter gestalten ließen.”

Deshalb eben handelt es sich auch um Mutationen: Ob Drum’n’Bass und Electro auf dem ersten Teil oder eben Gabber-ähnliche Kicks und kreischende Hardcore-Chords wie auf der zweiten EP, er nutzt einzelne Elemente bestimmter Spielarten von Clubmusik, um ausgehend von ihnen neue Formsprachen zu finden. Die Leitfrage “Was wäre, wenn …?” stellt dabei die Konventionen dieser Genres wiederum selbst infrage. Obwohl ein Teil von ihm das natürlich anders sieht: “Der Zyniker in mir sagt mir, dass meine Musik gar nicht allzu anders ist – dass es sich letztlich auch nur um eine Variation des Altbekannten handelt.” Aquarian wird seinen inneren Widersacher eben nicht so leicht los. Was allerdings noch lange nicht heißt, dass der auch immer Recht hat.

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