Bruchstelle: Warum Clubkultur jetzt Unterstützung braucht

Bruchstelle: Warum Clubkultur jetzt Unterstützung braucht

Features. 7. Juni 2020 | / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Nein, Rave ist nicht systemrelevant und Clubs sind nicht essenziell. Doch ist es trotzdem wichtig, jetzt in Kultur zu investieren. Denn über Kultur konstituiert sich die Gesellschaft und wo die ist, da ist die Politik nicht weit. Der Dancefloor war immer schon ein Versuchslabor für neue, kollektive Lebensentwürfe. Obwohl und gerade weil er stillsteht, könnte die Szene dahinter es wieder sein. Sie muss dabei aber auch ihren eigenen Verfehlungen ins Angesicht schauen.

Eine Szene bangt um ihr Überleben. Der Festivalsommer wurde weitgehend abgesagt, die Clubs sind auf unbestimmte Zeit geschlossen und PromoterInnen genauso wie BookerInnen sowie natürlich DJs sitzen auf ihren Händen. Auch die ProduzentInnen dürften von der neuen Situation eher weniger profitieren, als sich denken ließe. Viele Institutionen werden sich voraussichtlich nicht bis zum noch nicht absehbaren Ende der COVID-19-Pandemie und der damit einhergehenden internationalen Wirtschaftsrezession herüber retten können, und so manches Szenemitglied wird sich über kurz oder lang einen neuen Job suchen müssen. Selbst die Musik wird sich verändern: Wo nicht aufgelegt und nicht getanzt wird, da besteht schlicht weniger Bedarf nach pumpenden Vierviertel-Beats.

Die Coronakrise ist nicht die Ursache der existenziellen Not, in die eine gesamte internationale Subkultur wie über Nacht geriet. Denn die stand schon immer auf tönernen Füßen, war auf (Selbst-)Ausbeutung, prekären Umständen und temporären Lösungen aufgebaut. Nun jedoch kracht zusammen, was vorher notdürftig mit Spucke zusammengepappt wurde. Und es werden Forderungen laut, die sich vor allem an die Politik richten: Vergesst uns nicht! Wir brauchen Hilfe. Soll heißen: Geld. Denn einnehmen werden wir auf lange Sicht keins mehr und das würde unseren Ruin bedeuten.

Für Szenemitglieder und Fans muss vermutlich gar nicht ausgesprochen werden, warum Techno überhaupt rettenswert ist. Die Frage sei dennoch erlaubt: Ist Rave-Kultur systemrelevant? Zumindest ausreichend, als dass Bund und Länder mit Finanzspritze in der Hand zu ihrer Rettung herbeieilen sollten?

Im Abgleich mit den Löchern, die zuallererst in einem maroden Gesundheitssystem gestopft werden müssen, in denen sich Menschen unter schwersten Bedingungen weiterhin für ein Handgeld kaputt schuften, scheint die Forderung vermessen. Auch die Hinweise auf die wirtschaftliche Zugkraft der Clubkultur, wie sie in einer Studie der Clubcommission Berlin für das Jahr 2018 mit satten 1,48 Milliarden Euro in der Hauptstadt allein beziffert wurde, wirken dagegen zynisch. Zumal sie im Vergleich zu anderen Industrien eher hochtrabend als überzeugend scheinen. Solche Beträge sind im globalisierten Kapitalismus multinationaler Konzerne mit hunderttausenden Beschäftigten als Peanuts einzuordnen, auch wenn sie für die Kasse der Metropole sicherlich essentiell sind.

Nein, Rave-Kultur ist nicht systemrelevant. Und dennoch wäre es wichtig, gerade jetzt in sie zu investieren. Nicht um ihren Erhalt zu sichern und sie zu konservieren, sondern um ihr eine neue Zukunft zu ermöglichen. Denn die Zukunft unserer Gesellschaft selbst hängt in Teilen davon ab, wie wir kulturell auf die derzeitige Krise reagieren. Aktuell stellt sich eben nicht allein die Frage, wie wir überleben können – sondern auch, wie wir danach leben wollen. Und die Antworten dazu können und werden auch und vor allem aus dem kulturellen Bereich kommen. Finden wir neue Lösungsansätze für altbekannte Probleme? Schaffen wir es, das Miteinander neu zu gestalten? Können wir eine gerechtere Welt just in dem Moment schaffen, in dem sich die Ungerechtigkeiten noch viel deutlicher zeigen als zuvor?

Die Geschichte von Disco, House und Techno wird gerne verklärt. Oft wird hervorgehoben, dass diese Musikstile aus marginalisierten und ausgegrenzten Communitys erwuchsen: Queere und arme people of colour erfanden in New York das Disco-Nightlife, mit House wurde ebendort und in Chicago auf den Backlash der heteronormativen weißen Mehrheitsgesellschaft geantwortet: „Disco’s revenge“ lautete nicht ohne Grund Frankie Knuckles’ Umschreibung der von ihm mit aus der Taufe gehobenen Subkultur. Und Techno? Gab der jungen schwarzen Jugend der maroden Motor City Detroit ein Ventil, nein, eine eigene Kultur, die bald zu einer internationalen Bewegung heranwachsen sollte.

In diesen Nacherzählungen werden oftmals die Begleitumstände vernachlässigt, obwohl oder gerade weil sie sich weit weniger glamourös gestalteten. Von Polizeigewalt angefangen über ökonomische Benachteiligung hin zur AIDS-Pandemie und nicht zuletzt der Appropriation vormals radikaler Subkulturen durch einen Mainstream, der die politischen Implikationen von Dance Music durch reinen Hedonismus ersetzte und die Egalität auf dem Dancefloor nicht allein durch die Einführung von VIP-Bereichen durchbrach: Viele der Errungenschaften der internationalen Dance-Community wurden von katastrophalen Zuständen verursacht, von ihnen begleitet und nicht selten eröffneten sich neue Probleme just dort, wo einige Altlasten abgeworfen wurden. Genau deswegen jedoch ist es derzeit sinnig, sich darauf zu besinnen, wie diese Subkulturen mit ihren kulturellen Praxen die Gesellschaft um sie herum veränderten.

Die Reorganisation des Raums

Die COVID-19-Pandemie macht beispielsweise eine Reorganisation des Raums unabdingbar, solange keine Therapie oder noch besser ein Impfstoff gegen die Krankheit gefunden wurde. Restaurants, Bars und ebenso Clubs können wegen epidemiologisch gebotener Abstandsregelungen den ihnen zur Verfügung stehenden Raum nicht mehr in der gewohnten Form nutzen. Weniger Menschen brauchen mehr Raum, lautet die paradoxe Formel. Weniger Menschen bedeuten aber eben auch weniger Einnahmen und mit weniger Einnahmen lässt sich nicht mehr Raum bereitstellen, im Gegenteil. Die Situation kommt einer Sackgasse gleich.

Clubkultur hat jedoch schon immer ein großes Innovationspotenzial dafür an den Tag gelegt, unter widrigen Umständen Raum neu zu gestalten. Mit dem Studio 54 angefangen bis hin zu Tresor und Co. verweisen nicht ohne Grund viele Clubs mit ihrem Namen auf die ursprüngliche Bestimmung der Orte, in denen sie sich – bisweilen nicht immer ganz legal – eingenistet haben. Denn Clubs werden nicht gebaut, sondern richten sich in bestehenden Gebäuden ein und schaffen dort ihre eigenen Ordnungen kultureller und sozialer Art. Die Idee eines Raums, der auf mehr gesellschaftliche Gleichberechtigung zugeschnitten ist, als in der Außenwelt zu haben ist, wird nunmehr wichtiger denn je. Sicherlich kann der Club der Zukunft nicht genauso aussehen wie derjenige der Vergangenheit. Doch können und sollten gewisse erprobte Konzepte unbedingt zum Vorbild werden, wenn wir aus hygienischen Gründen unsere Umgebung neu organisieren.

Rave-Kultur hat die Umdeutung von Fabrikhallen vorgemacht, an Orten der ökonomischen und sozialen Ungerechtigkeit und Unterdrückung marginalisierten Communitys neue Möglichkeitsräume eröffnet und dabei Gleichberechtigung erfahrbar gemacht. Auch das hatte alles seinen Preis und brachte neue Probleme mit sich. Doch die radikale Vorstellungskraft, die es dafür benötigte, sie wird nun dringender gebraucht denn je. Das Kapital, das eine Clubszene wie die Berliner mitbringt, lässt sich nicht in Excel-Tabellen errechnen. Es ist eines der Innovation.

Wider die Macht des Markts

Wo indes Innovation ist, da finden sich meistens auch Konkurrenzverhältnisse – so wollen es die Mächte des Marktes. Doch zeigt die Geschichte der Dance-Community, dass auch dazu Gegenentwürfe bestehen. Der Dancefloor wurde zur Petrischale neuer, temporärer Gesellschaftsformen, die auf soziale Gleichheit statt auf ökonomische Vergleichbarkeit abzielte. Selbst das körperlich-räumliche Miteinander wurde auf die erstaunlichste Art und Weise revolutioniert. Die schönste Erfindung der Disco-Ära ist nicht etwa die 12“-Single, Remix-Kultur oder das gemixte DJ-Set, sondern das gemeinsame Alleinsein.

In der westlichen Welt regierte jahrhundertelang eine Vorstellung von Tanz, die ihn vor allem als Gruppen- oder Paarbetätigung definierte, als gesellschaftliche Konvention mit heteronormativer Prägung. Dann kam Disco und machte es möglich, dass sich Menschen voneinander unabhängig und doch im Verbund bewegten. Die Menschen tanzten einzeln, lost in music. Die Vereinzelung des Individuums innerhalb einer Masse trägt sicherlich auch etwas potenziell Negatives wenn nicht sogar Gefährliches in sich, auf dem Dancefloor jedoch konnte sie positiv konnotiert und fruchtbar gemacht werden: Soziale Unterschiede wurden zwar keineswegs ausradiert, schienen im Schummerlicht der Diskotheken immerhin jedoch etwas blasser als zuvor.

Darauf gilt es nun aufzubauen in einem Sinne, der die vormaligen Probleme mitdenkt und den eigenen Verfehlungen der letzten Jahrzehnte Rechnung trägt. Denn nicht immer wurde wirklich allen der Eintritt gewährt. Die Leitfragen nun müssen lauten: Wie lässt sich ein physisches Miteinander auf Hygieneabstand gestalten, das soziale Bande stärkt statt sie zu zerreißen? Und wenn ein physisches Miteinander nicht möglich sein kann und soll, wie könnte ein virtuelles aussehen? Wie gestaltet sich eine Form von unbedingter Solidarität, die zwangsläufig praktisch sein muss und doch nicht direkt körperlich sein kann? Das sind Fragen, die sich die Bevölkerung des gesamten Erdballs stellen muss. Lösungsansätze dafür gab es in der Geschichte der Clubkultur bereits, sie müssen nun dringend in Richtung Zukunft weitergedacht werden.

Soviel indes steht fest: Weder mehr schlecht als recht als Demonstration getarnte, an einem Krankenhaus entlanggeführte und parallel zu einer tatsächlichen Demonstration gegen rassistische Polizeigewalt abgehaltene Gummiboot-Raves  ohne den leisesten Hauch von Rücksicht- oder Distanznahme noch pompöse Autokino-Clubnächte oder gar Open-Air-Partys mit dreistelligen Eintrittsgeldern werden uns weiterbringen. Das alles sind Ansätze, die ins Leere führen, blanken, zynischen Hedonismus beweisen und nebenbei noch soziale Missstände nur weiter verschärfen.

Denn es darf nicht vergessen werden, dass auch die Rave-Szene von ökonomischen Interessen korrumpiert und die guten Absichten assimiliert wurden. Nicht allein der unbedingte Fortschrittsglaube der frühen Techno-Generationen schmeckt mit Blick auf die Vormacht internationaler Tech-Konzerne über unser Alltagsleben schal. Auch innerhalb der Szene ergaben sich Dynamiken, die die der Welt um sie herum widerspiegelten. Kurzum: Rave sollte von Anfang an das Gegenteil einer Ware sein, ausverkauft wurde er dennoch.

Schon Mitte und Ende der neunziger Jahre konnten sich Superstar-DJs etablieren, im vergangenen Jahrzehnt entwickelte sich eine neue DJ-Figur, die als 360°-Marke verstanden werden konnte, überdominante Ich-AGs mit Instagram-Account. Paradox ist das, weil Club-DJs einst den Star- und damit auch den Personenkult abschaffen sollten, den Fokus auf Musik und das gemeinsame Erleben verschoben. Aktuell verschärfen sich am Auflegen im digitalen Raum noch die Probleme und Ungerechtigkeiten der Musikindustrie vor dem Zeitalter der Pandemie.

Diejenigen DJs, die selbst angesichts der aktuellen Situation noch profitieren und ihre Schäfchen im Trocknen wissen, tragen in der Regel am wenigsten zum eigentlichen Szenegeschehen bei, wie es sich Nacht für Nacht abspielt. Und vielleicht sollten sie, das heißt genauer der gesamte Starkult um sie herum, also abgeschafft werden. Denn wichtiger und essenzieller für das soziale Dasein der Clubkultur sind nicht nur ganz andere ArbeiterInnen – die vielen Menschen hinter der Kulisse, die nicht selten auf Basis von Selbstausbeutung das Geschehen auf ihren Schultern tragen –, sondern auch das Publikum.

Das nämlich, und davon legen die Geschichten des Undergrounds Zeugnis ab, nutzte die Zusammenkunft auf dem Dancefloor nicht nur für den individuellen Hedonismus, sondern auch für die kollektive Organisation. Das reicht von selbstorganisierter medizinischer Versorgung queerer Communitys während der AIDS-Pandemie bis zu internationalen Bündnissen wie der sogenannten Berlin-Detroit-Connection, die mit globaler Perspektive lokale Projekte ermöglichte. Das ist wichtig, damals wie heute. Wer dazu die Musik abspielt, ist es nicht wirklich.

Eine neue, unbedingte Internationalität

Während der COVID-19-Pandemie zeigt die Globalisierung ihr hässliches Gesicht: Sie bedingt und beschleunigt die Verbreitung des Virus, welches wiederum offenlegt, wie schlecht es einigen Teilen der Welt und vor allem dem globalen Süden oder anderen ökonomisch benachteiligten Gebiete geht. Rumänische SaisonarbeiterInnen werden entgegen jeder Vernunft unter großen gesundheitlichen Gefahren nach Deutschland geflogen, damit Spargel und Schweinefleisch rechtzeitig im Supermarktregal liegen. Nur, weil der Markt das gebietet. Ein Markt indes, der keineswegs irgendwie natürlich gewachsen wäre. Und dessen Mechaniken eben jene Ressourcen – seien es materielle oder das sogenannte „Humankapital“ – zerstören, aus denen er seinen Wert ableitet. Diese Art von Globalisierung braucht es nicht und wird es in Zukunft umso weniger brauchen.

Auch die globalisierte Clubkultur zwischen Easyjetset und DJs mit Privatflugzeugen ist alles andere als erhaltenswert – erst recht nicht in ökologischer Hinsicht, versteht sich. Was jedoch nun mehr denn je vonnöten ist: eine unbedingte Internationalität. Zwar wird nicht überall auf der Welt zu Disco, House und Techno getanzt, doch hat sich die Dance-Kultur wie keine zweite als weltweites Projekt verstanden. Auch darauf ließe sich nun aufbauen, sich fragen, wie ohne all den Ballast – ob nun in Form von struktureller Ausbeutung und Unterdrückung oder tonnenweise CO2 – neue Bündnisse ermöglicht werden können. Tatsächlich wäre es allemal angemessener, praktische und internationale Solidarität mit der Black-Lives-Matter-Bewegung zu zeigen, als sich im Landwehrkanal zu Tech-House-Geholze volllaufen zu lassen.

Die kommenden Monate und Jahre werden für die gesamte Szene zum ideologischen Lackmustest. Sie kann sich gleichermaßen auf ihre Stärken besinnen, wie sie aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen vermag, um letztlich neue Perspektiven für die Zukunft zu ermöglichen. Sie wird dadurch nicht ihre Relevanz für das System unter Beweis stellen, keineswegs. Sondern seine Umwälzung hin zu einem besseren anstoßen. Deshalb, und aus keinem anderen Grund, braucht sie derzeit alle mögliche Unterstützung.

Daraus ergibt sich wiederum eine Vielzahl von Paradoxa: Warum sollten ein Staat oder eine Gesellschaft sich einer Kultur erkenntlich zeigen, die auf ihre Umwandlung zielt? Würden damit nicht sowieso neue Abhängigkeiten geschaffen? Wie ließe sich mit diesem Ziel hin eine Szene organisieren, wenn dieser aktuell die Mittel fehlen? Und was, wenn sich alte Muster selbst in der neuen Situation wiederholen? Diese Fragen stellen sich leicht und sie sind schwer zu beantworten, in der Praxis mehr noch als schon in der Theorie. Doch etwas muss geschehen und eine Rückkehr zur alten Normalität ist nicht nur aus epidemiologischer Hinsicht nicht geboten.

Es braucht neue Lebensentwürfe, neue gesellschaftliche Konzepte und vor allem politische Veränderung – kurzum, es braucht Ideen. Von Disco über House hin zu Techno und noch viel weiter hatte Rave-Kultur bis hierhin einige von denen zu bieten. Warum nicht jetzt wieder?

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