Interview: Martin Kohlstedt – Klassik, Chorgesang und Elektro

Interview: Martin Kohlstedt – Klassik, Chorgesang und Elektro

Features. 1. März 2020 | / 5,0

Geschrieben von:
Nastassja von der Weiden

Unsere Autorin Antoinette Blume traf ihr Idol: Martin Kohlstedt. Der Pianist verbindet Klassik und Elektro und spielt dabei mit dem Rücken zum Publikum. Er versinkt in seiner Musik, die er im Zuge seiner aktuellen „Ströme“-Tour gemeinsam mit dem renommierten Gewandhaus-Chor Leipzig auf die Bühne bringt. Antoinette durfte ihm vor dem Konzert in Leipzig ein paar Fragen stellen.

Martin Kohlstedt. Ich weiß nicht warum, aber der Name klingt unfassbar nach Klassik, Hochkultur. Nach etwas Monumentalem, nicht „einfach“ nur nach Solokünstler. Vielleicht bin ich auch zu geprimet – das kann natürlich sein. Aber als mir meine Mutter schrieb, dass Martin Kohlstedt in Leipzig spielt und sie mir gerne Karten für sein Konzert mit dem Gewandhaus-Chor schenken wollen würde, hatte ich gleich so ein Gefühl, dass es mir gefallen könnte – da ich den Namen per se schon interessant fand.

Und dann ging es Schlag auf Schlag. Eine kurze YouTube-Google-Instagram-Suche später war ich ziemlich, ach was sage ich, völligst in Love und hatte meiner YT-Playlist so gut wie jeden Mitschnitt von Kohlstedt in der Elbphilharmonie in Hamburg hinzugefügt, schaute jedes auffindbare Interview-Video mit ihm (mehrmals!) und ging schließlich auf die Website des Künstlers. Wow, einfach alles wow. The highest Level von allem, ohne staubig, starr oder zu klassisch – für meine Ohren – zu sein. Ich war schockverliebt in diese Musik, das ist der passendste Begriff. So ging es mir das letzte Mal bei Tinkahs LP ‚Thoughts You Are Not Supposed To Speak Out In Public‘, die mich ebenfalls vom ersten Hören an berührt hat.

Berührend, das ist die Musik von Martin Kohlstedt auch. Nicht im kitschigen Sinne von Tränen-in-den-Augen und Gänsehaut, aber eben doch genau das. Seine Musik ist wie ein Soundtrack, der die intensivsten Momente des bisherigen Lebens zusammenfasst. Sämtliche Gefühle, die man spürt, aber ad-hoc nicht beschreiben kann, ob schlimm oder schön, sind für mich in Martin Kohlstedts Musik enthalten; im Fluss, in der Spannung, in den drohnigen Soundteppichen, die das Klavier nicht hergibt, aber ein Synthesizer eben schon. Die leichteste, schwerste, gleichermaßen loslassenste Krönung von allem bisher Dagewesenen – für mich. Ich gehe noch ein Schrittchen weiter, um euch ein Bild zu geben: Man könnte die Musik von Kohlstedt mit dem ersten und schönsten Rausch vergleichen.

Es dürften bis hierhin alle gemerkt haben, dass ich Fan bin. Aber auch Musikjournalistin. Waren meine Themen zwar bisher mehr kulturpolitisch angehaucht, bringt mich die naive, pure Begeisterung über die Musik Kohlstedts tatsächlich dazu, einen sogenannten Nachklapp, also Nachbericht, über das Konzert schreiben zu wollen. Erst ganz schlicht, denn ich gehe ja sowieso zum Konzert. Dann fragte ich beim Management des Pianisten an und bekam die Antwort, dass ich doch kurz vor dem Auftritt im Gewandhaus zum KünstlerInneneingang kommen solle und Martin Kohlstedt zum Interview treffen dürfte. Kurz kaltschweißig, aber vor allem ziemlich aufgeregt trage ich mir das Interview in meinen Kalender ein. Hoch gepokert, tief gestapelt, jetzt kommt’s drauf an – also wie immer eigentlich, aber um einiges nervöser.

18 Uhr am Hintereingang: Ich war schon öfter im Gewandhaus, um genau zu sein drei Male. Zweimal zu Yann Thiersen (wunderschön) und einmal zur Audio-Invasion (ging so). Durch den Hintereingang bin ich noch nie gelaufen. First time. Martin Kohlstedt kommt auf die Minute genau mit etwas zerzaustem Haar um die Ecke. Es geht am Empfang vorbei durch lange Flure, die an Schulkorridore erinnern, ins Innere des Gewandhauses und schließlich in eine der KünstlerInnengarderoben – alles zack-zack, nebenbei begrüßen ihn schon einige Mitarbeitende. Ein wenig hektisch macht Martin Platz an einem kleinen Tisch. Die nächsten 30 Minuten unterhalten wir uns über seine Musik, das Gewandhaus und darüber, was es heißt, drei Jahre mit einem Chor ein musikalisches Dauer-Experiment in die größten Konzerthallen in Deutschland zu führen.

Interview:

Hallo Martin, ich freue mich sehr, dich noch vor deinem Auftritt treffen zu dürfen und noch mehr freue ich mich natürlich auf das Konzert später. Ist es heute ein besonderes Gefühl, mit dem Gewandhaus-Chor im Gewandhaus zu spielen – dort, wo alles begann?

Ich meine, das Gewandhaus war schon lange ein vertrauter Ort für mich, allein durch die alten Bandprojekte Marbert Rocel und Karocel und die Audio-Invasion hat sich das schon ein wenig zum Eigenheim entwickelt. Aber heute, heute ist etwas in der Luft. Ich glaube, heute wird über die Stränge geschlagen, und ich bin einfach nur positiv aufgeregt und will, dass es endlich losgeht.

Gleich zum Anfang möchte ich dich noch etwas fernab des heutigen Abends fragen. Du hast auch mal bei einem für unsere LeserInnen sehr interessanten Festival gespielt, das ich letztes Jahr ebenfalls besuchen durfte und von dem du bei einem Interview mit der Tagesschau kurz erzählt hast – auf dem Gamma Festival in St. Petersburg. Wie war es für dich, auf diesem Festival zu spielen?

Das Gamma-Festival durfte ich schon zweimal besuchen und was ich dort neben der Mentalität mag, ist, dass sie „weiter hinein schauen“ – es geht nicht nur um Instrumentierung, sondern um das Fließen der Musik. Außerdem haben sie beim Gamma nochmal eine andere, viel konkretere Vorstellung von dem, was sie von einem elektronischen Festival verlangen – eine ganz andere Notwendigkeit. Es geht nicht nur viel direkter rein, das Event verlangt auch viel mehr, so war das jedenfalls nach meinem ersten Aufenthalt dort. Und dann ein Konzert dort zu spielen, und etwas beizutragen, neben zum Beispiel Murcof, das war sehr besonders für mich. Damals hatten dann Polizisten das Festival aufgelöst und es schien damit vorbei zu sein. Über Telegram haben sich dann Menschen nur wenige Kilometer weiter zusammengefunden und dieses Festival wieder zusammengesetzt. Vier sehr starke Russen haben dann ein Klavier aufs Dach der neuen Location getragen. Das Cinch-Kabel wurde um 2.30 Uhr aus den Turntables gezogen und dann habe ich ein Klavierkonzert gespielt; eine Stunde lang mit den elektronischen Sachen, die ich noch zur Verfügung hatte. Es lief im wahrsten Sinne des Wortes russisch ab – alle kamen nochmal zusammen und dieses Erlebnis war schlichtweg magisch: Auf diesem Hausdach, die Schiffe vom Hafen um uns herum. Die Menschen haben die Techno-Break sichtlich genossen. Und dann ging es danach direkt weiter. Mein letzter Ton ist verklungen und das Cinch-Kabel wurde mit einem lauten Knall wieder eingesteckt. Also ich habe dort erlebt, wie dieses Rohe, das Improvisierte, aus dem Bauch und Moment heraus – das, was in dem Moment wirklich gebraucht wird, einfach zu machen, ohne ausformulierten Plan – abläuft. Das schätze ich an diesem Festival sehr und werde da hoffentlich auch wieder einmal Teil von sein.

Bei deinen Auftritten, die unter „gewöhnlicheren“ Umständen ablaufen, wie erweiterst du da den Sound des Klaviers und wie kamst du dazu, Klavier und elektronische Synths zu kombinieren?

Also begonnen hat eigentlich der Gedanke überhaupt zu den synthetischen Klängen „herüberzuspringen“ mit den Fender Rhodes, die unter anderem Ende der 60er Jahre aufkamen. Ursprünglich wurden diese Klaviere eigentlich für den Krieg gebaut, um in Lazaretten, ja, letztendlich für Stimmung zu sorgen – und na ja, das hat tatsächlich funktioniert. Es sollte ein Klavier-Nachbau sein, musste aber elektronisch verstärkt werden, ähnlich wie die E-Gitarre auch. Und da hat sich eine wunderschöne Mischung aus einer Art Sinus-Ton und organischem Sound entwickelt. Dann haben sich die Synthesizer dazu gesellt, man wollte immer mehr forschen. Ich habe eigentlich versucht das Gegenstück zum Klavier zu suchen – ich habe nach etwas gesucht, dass das alte Vokabular herausfordert und provoziert. Dabei habe ich aber immer mehr gemerkt, dass nach solchen Kämpfen, nach dem Noise und dem Bass, alles viel eher dazu führt, miteinander zu klingen. Das „Verweben“ der Sounds, das ist auch noch heute der Auftrag: den Diskurs walten zu lassen.

Du stehst sonst alleine auf der Bühne und versinkst merklich in deinen Stücken, improvisierst, spielst ohne Noten, jedes Konzert ist anders. Bei der Kooperation mit dem Gewandhaus-Chor musstest du dich nun auf die SängerInnen des Chores einlassen. Wie war im Vergleich zu deiner Solo-Arbeit die Zusammenarbeit mit dem Gewandhaus-Chor für dich?

Einen ganz kleinen Prozentsatz mehr muss sich der Chor auf mich einlassen (lacht). Gregor Meyer (der Chorleiter des Gewandhaus-Chores, Anm.d.Red.) konvertiert, reagiert, improvisiert und kommuniziert auf der Bühne, um das an den Chor zu übertragen, was zwischen ihm und mir an Improvisation stattfindet. Der Chor lässt sich dann spielen wie ein Instrument und ist damit der verlängerte Arm der Kommunikation. Ich reagiere dann wieder auf die ganze Fläche und schaue, welche weiteren Variablen gelöst werden. Das folgt dem Prinzip, dass immer wieder herausgefordert werden muss. Spiele ich allein, ist das tatsächlich auch ein Gespräch mit mir, dessen Vokabular auch sehr verkopft oder auch mal ausgeschöpft sein kann sein. Wenn man sich ewig im Kreis dreht oder im sumpfigen Zweifel feststeckt, braucht es wieder einen neuen Gesprächspartner. Gesprächspartner oder vielleicht eher einen Spiegel – das ist das richtige Wort. Das habe ich auch früher schon mit Peter Broderick und vielen anderen Mitstreitern zelebriert: die Musik rezensieren lassen. Dann kommt eben diese konvertierte Musik zurück und man hat ein neues Bild davon. Und dabei bemerkt man unweigerlich, dass sich die Stücke frei und anders entwickeln dürfen, sogar emanzipieren, wie kleine Kreaturen. Das ist und bleibt alles ein Prozess bei meiner Musik und genau so wird es weitergehen.

Gab es Startschwierigkeiten mit dem Chor?

Spiele ich allein, dann kann ich ohne Rücksicht auf Verluste handeln. Hin und wieder führt das zu großen Fragezeichen, aber wenn ich ehrlich bin, stehe ich ein wenig darauf, genau diesen fragwürdigen Moment auf der Bühne "auszustellen". Ein Chor mit vielen Einzelcharakteren muss ein Gemeinschaftsgefühl, eine "gemeinsame Linie" behalten – und darauf passt man auf. Man tappt hin und wieder durch die Dunkelheit. Genau da müssen dann feste, konkrete Bezugspunkte hineingeben werden, damit der Chor wieder auf einen selbstbewussten Kurs kommt.

© Nikta Vahid-Moghtada

Und das hat für alle gut funktioniert, dieses freie Walten, dieses neue Arbeiten mit dir – was ja sehr unüblich zum Choralltag sein muss?

Nicht für alle. Es gab ein paar Chormitglieder, die die ersten Proben nicht überstanden haben. Das kann ich aber auch verstehen. Wenn Musik nicht mehr bewertet werden kann, führt das mitunter dazu, dass sich unerträgliche Unsicherheiten breitmachen – manchmal möchte nicht auf eine Reise gehen, die solche Ungewissheiten birgt. Wir haben nicht alle geknackt – aufgrund dieses Zwiespalts war dann aber umso mehr Mut und Potenzial bei den verbliebenen Chormitgliedern. Die haben dieses Erlebnis auch noch nicht gehabt, sich so extrem auf ihren linken und rechten Nachbarn konzentrieren zu müssen, um gemeinsame Akkorde zu formen. Es herrscht eine unheimliche Konzentration und ein starker Fokus auf der Bühne. Das war so neu für den Chor, dass man einen völlig anderen Modus wahrnehmen konnte. Schlüsselfigur ist hier Gregor Meyer: Es gibt kaum jemanden, der beide Seiten, also Bauch, Intuition und Wahnwitz auf der einen Seite und klassische Strukturen und Hierarchie auf der anderen Seite, so steuern kann.

Welches waren die bisherigen Highlights auf der Tour für dich? Ihr wart ja an fantastischen Ort und kehrt heute an den Ort zurück, wo alles begann.

Gestern waren wir im größten klassischen Konzerthaus Deutschlands, im Kuppelsaal Hannover. Wir waren im Berliner Konzerthaus, in der Laeiszhalle – wahnsinnig pompös! Aber auch die Philippus-Kirche in Leipzig war ein Highlight, denn dieses Haus fühlte sich so an, als wäre es einzig und allein für den Zweck gebaut worden, unsere "Ströme" dort aufzuführen. Genau die richtige Größe des Publikums, genau der richtige Fokus – was da von Statten ging, führte unweigerlich nach "innen", während Berlin und Hannover nach "außen" wirkten – das war ein ganz seltsamer Moment, als alles von alleine passierte, ohne dass man es anstoßen musste.

© Nikta Vahid-Moghtada

Wie geht es mit dem Projekt nach der Tour weiter? Ist die Geschichte auserzählt, macht ihr weiter, braucht ihr erstmal eine Pause?

Bauchgefühl. Wir machen tatsächlich erstmal so eine Art Beziehungspause. Aus dem einfachen Grund, dass wir die Sache jetzt setzen lassen wollen. Dann schaut man sich auch mal die Videos dazu an, um die Arbeit auch mal aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Wir haben die Arbeit nämlich bisher nur ‚im gemeinsamen Erschaffen‘ erfahren und alle anderen durften zugucken. Wir wissen also gar nicht, an welchem Punkt das Ganze gerade ist. Anfühlen tut es sich wie in Kinderschuhen. Und das ist auch total schön. Die Produktion jetzt gerade erst mal kurz einzufrieren und vielleicht dann irgendwann mal auf einer Fusion-Main-Stage aufzutauchen, das wäre eine Idee – ich sag mal, das Buch ist nicht geschlossen, aber das Kapitel schon.

Und bei dir, was hast du für die nahe Zukunft vor? Solo-Programm, Lust auf neue Kooperationen? Hast du auch schon mal an eine A/V-Zusammenarbeit gedacht oder Lust darauf?

Dadurch, dass “Ströme” schon ein Exkurs meiner bisherigen Arbeit war, ich also „ge-re-worked“ habe mit dem Chor, werden jetzt nochmal musische Menschen, die ich sehr mag, über diese Stücke gehen, sich die Chorspuren einverleiben und neue Musik daraus machen. Das heißt, es wird ein Re-work des Re-works geben und dann ist der Orbit so weit verlassen, dass ich einfach wieder zum Klavierspielen zurückkehren würde. Einfach mal wieder ganz zart an den Anfang.

Ein neues Release von dir ist also momentan noch nicht geplant?

Ein bisschen schon, immer: Diese Re-works werden jetzt im Frühjahr bis zur Festival-Saison schon immer mal fallen, damit man nicht das Gefühl bekommt, man vergisst sich oder da ist etwas, das in der Außenwelt für einen waltet. Aber nach innen gerichtet glaube ich, dass so in einem Jahr wieder eine Momentaufnahme der aktuellen Klavierstücke gemacht werden könnte.

Was sind deine musikalischen Träume? Gibt es noch Orte, an denen du unbedingt einmal spielen wollen würdest?

Ich dachte immer, dass wäre so – aber ich merke, dass die Orte, die schon gespielt wurden, mit denen man nicht gerechnet hatte – zum Beispiel das Hausdach in St. Petersburg – wo man schon fast hinnehmen musste, es könnte nicht mehr stattfinden, also solche Erwartungsschwenks, Ungeplantheiten, die machen eine ganz absurde Stimmung. Wenn 180 Menschen auf diesem Hausdach mit glasigen Augen vor dir sitzen und man ungefilterte Freiheit spürt – das kam einfach aus dem Nichts und war eine der krassesten Erinnerungen, die ich noch für meine Enkel aufheben werde und sie mit dieser Story auch immer wieder nerven werde (lacht). Aber klar, diese Hallen, dieses Berliner Konzerthaus ist auch ein Beispiel dafür – das sind Dinge, die man ad absurdum führen will. Man kommt dort hinein und es drückt an allen Enden, damit hat man früher nicht gerechnet, da möchte man alles zu Fall bringen, da fährt man mit viel elektronischem Diskurs ein. Dann gibt es auch wieder kleine Räume, wo Menschen im Schneidersitz drumherum sitzen und bloß das Klavier klingt und dort erfahre ich die gleichen Momente. Ich kann noch nicht wirklich sagen, was da noch steigerungsfähig wäre.

Eine letzte Frage noch, die sich fast automatisch stellt, da wir so kurz vor dem Konzert noch zusammensitzen: Wie bereitest du dich auf ein solches Konzert wie heute im Gewandhaus vor? Ist das für dich schon positive Routine? Gibt es ein Ritual, das du vor Auftritten abhältst?

Speziell bei der Ströme-Tour mit dem Chor ist es das Einsingen. Das ist ein sehr meditativer Prozess mit sehr einfachen Wiederholungen, die da gemacht werden. Jede und jeder konzentriert sich in diesem Moment auf sich und ich habe da auch nichts zu melden. Ansonsten versucht man vor dem Konzert noch alle möglichen Ungereimtheiten zu klären, Gedanken ordnen. Das ganze Vorhaben basiert auf dem dünnen Eis des Vertrauens und man möchte, dass sich alles bestmöglich anfühlt.

Martin Kohlstedt im Interview.
© Nikta Vahid-Moghtada

Nachklapp

Was ich sehr eindrücklich finde und bewundere, ist, dass sich Martin Kohlstedt wahrhaftig mit der erklingenden Musik in eine andere Sphäre begibt, die unsichtbar ist und vom Publikum durch Nichts unterbrochen werden kann. Kein Räuspern, kein Klatschen, keine erkennbar gespannten Augenpaare können den einmal angeworfenen „Kreisel“, also das Musikerlebnis, um den sich ebenfalls alles kehrseitig zu drehen scheint, stoppen. Das Publikum, darunter auch ich, darf genießen, Gedankenstrudel überwinden oder in sie gewollt eintauchen. Etwas nehmen, das Martin Kohlstedt mit ausladenden Bewegungen gibt, verteilt – ja, dem Publikum zu Teil werden lässt; die Erfahrung anbietet, aber mit seiner Musik ganz bei sich zu sein scheint.

Wobei, hier würde ich einhaken. Ich nehme an, dass auch das Publikum, der Raum und die darin schwirrenden Energien (ein bisschen Esoterik schadet ab und zu nicht) ebenfalls einen Anteil am Konzert haben. Denn die Konzerte von Martin Kohlstedt und dem Gewandhaus-Chor sind nie gleich – es sind Improvisationen, die natürlich davon leben, spontan und nirgends aufgeschrieben, weder in Notenblättern noch einem Ablaufplan, zu sein. Um es ein wenig abzukürzen und nicht zu viel verschriftlichen zu wollen, was eben doch für die (manchmal auch meta-)physische Erfahrung des Hörens gemacht wurde: Es war ein hingebungsvolles Konzert, auf den Punkt. An einem Punkt war die Klimax der Dramaturgie auf der Bühne so angenehm überspannt, dass es sich fast nach einer körperlichen Anstrengung anfühlte – obwohl man ja die ganze Zeit saß…

Trotz der fast 120 Minuten war das Konzert gefühlt zu kurz und doch wieder so bewegend und befriedigend, dass es vollends genug war. Nach der letzten Zugabe verabschiedet sich Kohlstedt mit einem Winken und verschwindet noch vor dem Chor hinter der Bühne. Das Licht geht an, etwas benommen scheinen sich nun doch alle aufzurichten. Mein Sitznachbar schaut mich an und sagt: „Ein Geniestreich. Wahnsinn.“

Ja, so kann man das stehen lassen.

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