Review: Leafar Legov – Mirror [Giegling]

Review: Leafar Legov – Mirror [Giegling]

Features. 6. April 2020 | / 5,0

Geschrieben von:
Tim Tschentscher

Es sind historische Zeiten in denen wir uns aktuell bewegen. Nicht nur das gesellschaftliche Zusammenleben wird von der COVID-19-Pandemie vielerseits attackiert. Auch für den Kulturbetrieb sind die mittel- und langfristigen Folgen noch gar nicht abzusehen. Alles steht, pausiert und hängt in der Schwebe. Dabei liegt eine laue, nervöse und seltsam verspannte Stimmung in der Luft. Gerade in dieser Phase scheint für Giegling-Veteran Rafael Vogel ein stimmiger Zeitpunkt da zu sein, seinen regulär ersten Langspieler in den Äther zu schießen. 'Mirror' ist ein Album das der derzeitigen Lage ein wenig Mut und Sinn abverlangen möchte. Jetzt ist die Zeit zu uns selbst zu finden.

Etwa zur gleichen Zeit vor elf Jahren ertönte der Startschuss für Giegling als Plattform. Mit 'I Believe You And Me Make Love Forever' erschien die erste 12-Inch für das Duo Rafael und Konstantin unter dem Pseudonym Kettenkarussell. Nach über zehn turbulenten Jahren und unterschiedlichen Projektformationen ist nun an gleicher Stelle Vogels – wenn man so möchte – Debütwerk erschienen. Allerdings ein wenig anders als üblich. 'Through the given situation we are changing our ways', heißt es auf der sonst so fragmentarischen Shop-Seite des Labels. Gegen eine Spende in frei wählbarer Höhe lässt sich das Album via Filehoster-Link wahlweise in MP3- oder WAV-Qualität beziehen. Damit werden erstmals offiziell Digitalkopien einer Veröffentlichung herausgegeben. Natürlich in typischer Giegling-Manier: Nicht alle UserInnen erhalten die identischen Kopien. Von Download zu Download variieren manche Stücke im Mixing und Tracklänge. Das konnte bereits beim Prince Of Denmark-Boxset zu '8' für interessante Verwirrung sorgen.

'Mirror' entpuppt sich dabei als melancholisches, manchmal leicht trübseliges aber in jedem Fall hochemotionales Album. Auf zwölf Tracks verwischen die Grenzen zwischen Vogels typischer Ambient-House-Handschrift und den diversen Zitaten aus Downtempo, Trip-Hop und New Age bis hin zu Neo-Klassik. Letzteres wird immer dann angeschnitten, wenn Vogel zu mollartigen Piano-Akkorden greift und sie gedankenversunken ausklingen lässt. Zu dem Stück 'Hyyde' können Fans über die Shop-Seite mittels Webcam Videobotschaften aus der COVID-Quarantäne einsenden. Zu sehen sind überraschte, gelangweilte oder entspannte aber stets frohe Gesichter. Man möchte trotz Social Distancing Verbundenheit vermitteln. Hier fallen die ruhigen Keys ins Gewicht, die von einem 90s-Bristol-Type-Backbeat getragen werden.

Grundsätzlich zeigt sich Vogel wieder von einer recht inspirierten Seite. Die Platte startet mit dem kurzen Opener 'Into'. Das knarzende Holz eines Uferstegs und das konstante Wellenrauschen lassen an das Stück 'Solitary Bird' von Georg Deuter erinnern. Vogel bereitet in den ersten Minuten den Spannungsbogen für ein esoterisch angehauchtes Hörerlebnis vor. Passend zum Tracktitel arbeitet er sich ganz in New Age-Manier in 'Wave' an musikalischen Verzierungen wellenformartig ab. Lange Synthesizerlinien treten wiederholt in den Vordergrund um sich im weit aufgespannten Raum wieder verflüchtigen zu können. Nach einem Streicheraufspiel endet der Track mit einem Zitat aus de Saint Exupérys Novelle 'Der kleine Prinz'.

Auf 'Fade' übt sich Vogel dann in Reminiszenzen an das Kino der Spätneunziger. Die Drums erinnern ein wenig an 'Clubbed To Death', darüber legt sich ein verschleiernder Vocoder-Gesang. Nach einer Xylophon-Meditation ('Abbas') entwickelt sich die Uptempo-Phase der Platte. 'In Your Mirror' ist Club-Legov in Bestform: Harmonisch-dystopischer Dream-House mit langen Klangfiguren im Hintergrund. Stücke wie 'Hidden Treasure' und 'The Slip' erinnern zudem an alte Boards Of Canada-Werke.

Einen schönen Moment erreicht Vogel auf 'Fly'. Mit einem Zitat von der Figur Alvin Straight aus dem David Lynch-Film 'The Straight Story' wird wehmütig an den gedanklichen Zusammenhalt zwischen Geschwistern aus der Ferne erinnert. 'Mirror' ist natürlich Giegling-typisch wieder ein recht dramatisches weil symbolisches Album über Selbstakzeptanz geworden. Jetzt gerade in dieser Zeit lässt uns so eine Platte an die schönen Dinge des Lebens denken. Sehnsüchtig wird den ersten Raves und Gatherings des Jahres entgegen gefiebert. Zu 'Mirror' lassen sich erste Pläne für eine Zeit nach Corona schmieden.

’Mirror' erschien am 22. März auf Giegling.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Youtube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

Veröffentlicht in Features und getaggt mit Album , Giegling , Leafar Legov , LP , Mirror , review

Deine
Meinung:
Review: Leafar Legov – Mirror [Giegling]

Wie findest Du den Artikel?

ø: