Techno-Essentials: Die prägenden Tracks der Gegenwart

Techno-Essentials: Die prägenden Tracks der Gegenwart

Features. 10. Juli 2022 | 4,5 / 5,0

Geschrieben von:
Christoph Benkeser

Techno sei over. Auf 140 Beats in der Minute rase man auf der Stelle, ohne politisches Potenzial, ohne Radikalität, ohne Schocks – schreibt der Kulturkritiker Kristoffer Cornils. Damit thematisiert er ein Problem, das in der Entwicklung von Techno steckt: Zwar knallt es auf den Dancefloors – die Vierviertelkick marschiert nach zweieinhalb Jahren im Krisenmodus immer schneller, noch aggressiver, der Hedonismus als Ventil lebt –, doch der zukunftsgerichtete Donner, sein Noise, fehle. Und zwar schon länger.

Dabei ist Techno immer noch Zeitgeist – als Seismograph des Subkulturellen vielleicht kein Abbild der Gesellschaft, aber ihre Geschwindigkeit, mit der wir mit einem Enya-Remix auf die Betonwand zubrettern. Das Neue und Radikale mag fehlen, wir bewegen uns schließlich im selben Taktfenster, das Jeff Mills vor 30 Jahren auf seiner 909 einstudiert hat. Heißt aber nicht, dass die Gegenwart nutzlos geworden wäre. Wir schätzen die Vergangenheit, ohne zwanghaft in ihr zu graben. Zitat um Zitat kehrt wieder. Ob in der Melodie oder im Bruch. Techno funktioniert. Nach wie vor.

Deshalb listen wir nicht zum zweiundreißigsten Mal Ben Klocks ‘Subzero’ auf, vergessen für zwei Sekunden auf ‘Ghetto Kraviz’ oder Sven Väth oder Surgeon und verlieren kein weiteres Wort über Robert Hood und Kevin Saunderson. Stattdessen provozieren wir die Genügsamkeit der Gegenwart als vorgetäuschten future shock, der in der Techno-Vergangenheit verbuddelt scheint. Weil Techno noch nicht tot ist. Oder zumindest nicht gefangen ist, solange wir ihn regelmäßig am richtigen Zeug schnuppern lassen.

Kareem Ali – Redemption

Composer, Sound Scientist, Young God. In dieser Reihenfolge beschreibt sich Kareem Ali. Der Producer aus Arizona bügelt seit Jahren Beat um Beat auf seine Bandcamp-Page. Über 40 Releases sind erschienen. Manchmal deep wie ein Sartre-Seminar, dann breaky, als wär man auf der A8 zwischen München und Salzburg falsch abgebogen – aber immer mit der Überzeugung, dass die Vergangenheit von Techno in seiner heutigen Musik mitdancen muss. Ali führt nicht umsonst die versammelte Truppe um Underground Resistance als heimliche Einflüsterer an, Mit Drexicya taucht er zwar nicht ab, kickt sich aber selbst ins Weltall. Damit erfindet der Mann, der von sich behauptet, gar keine Clubs zu mögen, das Rad der Clubkultur nicht neu. Am Mond waren wir aber trotzdem schon länger nicht mehr. Deshalb kombiniert Ali das Bestehende, zitiert es, superklebert die einzelnen Teile im Workaholic-Mode neu zusammen. Das cheesy Vocal-Sample schneidet sich durch eine ewig humpelnde Synthesizer-Note, die einem auf „Redemption“ über sieben Minuten den Schmalz aus den Ohren popelt. Immer vorwärts, immer weiter!

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Levon Vincent – 4 AM Rush (Novel Sound)

Keine Überraschung, Levon Vincent muss auf diese Liste. Mit seinem Label Novel Sound liest der New Yorker seinen Namen rückwärts, treibt aber seit 15 Jahren den Techno nach vorne. Wie Ali bezeichnet er sich als „scientist“, wenn auch „in the field of ass shakery.“ Einen Doktorkittel hängt sich Levon Vincent deswegen aber nicht um die Schultern. Ein Notizbuch und ein Stift genügen, um kurz nach vier Uhr früh die wichtigsten Peaktime-Einfälle festzuhalten. Vierviertelkick, Hi-Hat, Shaker … und eine Abfolge von Synthesizer-Synthesizer-Synthesizer-Akkorden, bei der sich Zak Khutoretsky von DVS1 am Black Russian verschluckt und Ben Klock sein großes Awakening erfährt. Anders gesagt: „4 AM Rush“ ist der Bump, den man sich zu fünft auf der Clubtoilette holt. Wenn nach zweieinhalb Minuten die Melodie reinkickt, fließen Körper. Allein. Für sich. Und doch irgendwie – haaaach – gemeinsam.

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Rosa Anschütz – Their Blood (BPitch)

Rosa Anschütz ist nicht ohne Grund bei Ellen Allien gelandet. Die zwischen Berlin und Wien commutende Künstlerin hat ein Händchen für Techno, die Stimme für den Dark Room und das Gschpüüühr, beides zu einem Mix zusammenführen, das die Lebanon Hanover-Gruftis genauso abholt wie den Hedonisten von der Herrensauna und die Melancholikerin vom Moderat-Gig. Anschütz, die in diesem Jahr 2022 ihr erstes Album auf BPitch veröffentlichte, kommt damit genau zur richtigen Zeit, um Trance und Troubadour das Mystische entgegenzusetzen. Etwas, für das man sich mindestens drei Jahre lang auf einer Kunstuni einschreiben sollte, um halbwegs authentisch nihilistische Leere zu verkörpern, während man sich innerlich einen Ast abfreut. Wie auch immer – mit Anschütz geht nicht nur Techno in eine neue Richtung, sondern auch BPitch. Gut so!

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Shxcxchcxsh – Kong (Avian)

Die Schwedenbomber von Shxcxchcxsh halten es mit der Anonymität. Live stehen sie als schwarze Silhouetten im Trockeneisnebel – zwei Techno-Tempelritter auf einer Mission, die inzwischen über sechs Alben und einem Dutzend EPs auf Labels wie Avian, Mord und Rösten geführt hat. Wem diese Trinität ein Begriff ist, weiß: Hier wird am offenen Herz geschweißt. In den Adern fließt Quecksilber, die Wreckers of Civilization waren ein seidenes Taschentuch dagegen. Mit „Kongetion“, dem neuesten Streich von Shxcxchcxsh, führt man Schmäh im Stahlbad. Der Vorschlaghammer wird zum Willkommensgeschenk, die Abrissbirne kommt im Doppelpack und wird mit Duracell-Batterien betrieben. Wenn Techno tot ist, dann nur, weil hier jemand den Starkstrom in den Verteilerkasten geleitet hat.

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LSDXOXO – SMD (Floorgasm)

Mit BumBumBumerin VTSS hat er schon GHE20G0TH1K in die Rekordbox gedrückt, für PinkPantheress den schönsten TikTok-Remix des Jahres hinterlegt und auf seinen Floorgasm-Events regelmäßig Mephisto gefickt. LSDXOXO kann Bänger! „SMD“, seine neue Geburt, steht für Schweinereien, bei der arrivierte Feuilleton-Fuzzis und Tageszeitungs-Tröten lieber weghören. Schließlich saugt der Track einem in drei Minuten jede Flüssigkeit aus dem Körper, die nach sechs Stunden am Dancefloor und zu vielen Pileeeeeeen noch drin ist. Außerdem knebelt die 909 den Mund und der Bass tropft von der Decke. Wer dazu keine Morgendehnung auf der Streckbank einlegt, bleibt auf immer und ewig ein prüdes Mauerblümchen, das verstohlen dem Bondage-Geschirr hinterherblinzelt.

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JASSS – Luis (Ostgut)

JASSS gehört zu jenen Producer:innen, die Techno Mund-zu-Mund-beatmet, im Takt eines Presslufthammers zur Herzmuskelmassage ansetzt und den Defi mit Trance betreibt. Spätestens seit ihrem Whities-Release vor zwei Jahren löst sie regelmäßig Rave-Flashbacks aus. Mit ihrem Album auf Ostgut ist endlich dort angekommen, wo JASSS hingehört – im Hain! Die spanische Berlinerin klopft trotzdem (oder gerade deswegen) kein Vierviertel-Gschistigschasti nach dem anderen raus, sondern baut Tracks, für die man sich in der subkulturellen Prekaristen-Bubble noch Credits abseits von Triolen-Träumen abholen kann. Wer das nicht feiert, pickt immer noch auf Dettmann-Sets von 2012.

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nthng – Earthseed (Transatlantic)

„Sometimes nthng is everything <3“, schreibt ein User auf YouTube. Wie wahr! Nthng, den man von Releases auf Mörk oder Lobster Theremin kennen muss, hat in der Vergangenheit mehrfach unter Beweis gestellt, dass er Baupläne von Subwoofern studiert hat. Anders ließen sich die Kicks des Niederländers in Berlin nicht erklären. Alben wie „Hypnotherapy“ waren Schatzgruben während Corona-Walks. Mit „Earhseed“, einer EP auf seinem eigenen Label Transatlantic, spechtelt nthng wieder mehr in die Trance-Richtung. Was sich eine Minute lang aufbaut wie der nächste Bunker-Bänger aus dem Tresor, shiftet innerhalb einer Sekunde in ein Wiegenlied für Menschen, die mit galoppierendem Puls im Bett liegen und die Sünden des Rauschens aus ihren Körpern schwitzen.

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DJ Heartstring – The Last Hour (Lobster Theremin)

Seitdem Eurodance nicht mehr automatisch dazu führt, dass sich die Leute am Technofloor den Mittelfinger in den Rachen schieben, feiern die Berlin-based-Buddies von DJ Heartstring ein Fest der Freude. Eines, das sie auf Labels wie 1Ø PILLS MATE, Eurodance (eh klar!) oder den Guys von Lobster Theremin austragen. Dort kramt man im Kinderzimmer verzweifelt nach alten Ministry of Sounds-CDs, um sich in die 90er zurückzubeamen und der Kindheit eine Ode an die Droge zu produzieren. Sechzehntelbässe glänzen mit Acid in den Augen, die Autodrom-Melodien kurven ins Schleudertrauma, Ecstasytränen perlen aus den Tellern. DJ Heartstring greifen damit nicht nach dem Zeitgeist, sie sind der Zeitgeist. Der funktioniert in der Werbung gegen Substanzmissbrauch, zum Fünf-Uhr-Tee bei der Omma oder im Club. Selbst dann, wenn das Licht schon wieder an ist und man in einer verrauchten Eckkneipe bei der Hasenheide von früher träumt.

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Rrose – Dissolve (Eaux)

Während alle immer krasser eskalieren, zuckelt einer mit Bedacht die rechte Fahrspur entlang. Dabei drückt Rrose schon seit zehn Jahren das Bodenblech durch. Nur weil die anderen schneller fahren, heißt das für den Mann mit der Maske aber nicht, dass er sich jeden Tränds anbiedern muss. Schließlich kommt man auch mit 125 Sachen irgendwann an, muss davor aber nicht ohne Ende Speed ballern, um sich von dem Autoradio hypnotisieren zu lassen. Alte Camper-Freund:innen wissen: Der Weg ist das Ziel. Deshalb dürfen sich Tracks bei Rrose so lange aufbauen, wie man in einem Bulli, Baujahr 89 vom ersten in den zweiten Gang hochschaltet. Soll heißen: Zeit, um sich zu entfalten, den ganzen Bums durchzuzocken, den Techno mal ausmachte. Klar, die Welt hat sich weitergedreht, Benzos ballern ist das neue Ding. Für Deep-Listening-Déjà-vus am Dancefloor braucht man trotz allem nur eine Kickdrum und 25 Meter hohe Räume.

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MCR-T & horsegiirL – Farm Fantasies (Live From Earth Klub)

Techno ist kein Ponyhof – sondern eine Pferdefarm. Weil man „Alles seit Sven Väth ist scheiße“-Mitvierziger mit angefuttertem Wohlstandsbäuchlein wunderbar ärgern kann, indem man ihnen die Musik vorspielt, zu der sie vor 20 Jahren Pillen schmissen, tun wir das hier. Einfach so. Der Abschluss dieser Liste gebührt deshalb MCR-T und horsegiirL, die Anfang des Jahres eine EP veröffentlichten, für die ihnen sogar die ärgsten Cowboys aus der Drogenhand fressen. Call it Trance, call it Hardcore – Blümchen wirft vor lauter Freude schon mal den Boomerang über eine rosa Wolke. Das ist die Herzfrequenz der Gegenwart. So tot kann Techno nicht sein.

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