Tripbericht: Krake Festival – ein anarchischer Clash der Unterschiede

Tripbericht: Krake Festival – ein anarchischer Clash der Unterschiede

Allgemein. 22. November 2021 | / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Mit seiner diesjährigen Ausgabe setzte das Krake Festival auf ein Hybrid-Format, das neben einem breiten Streamingangebot auch eine Clubnacht mit satten 19 ½ Stunden Länge umfasste. Konzept? Gab es scheinbar keines. Dafür aber zwischen dem 11. und 14. November umso mehr zu erleben.

Im Vergleich mit den zwei anderen Stadtfestivals für elektronische Musik haftet dem Berliner Krake Festival immer etwas Unfertiges an. Zumindest von außen betrachtet ist anders als beim CTM Festival kein stringenter konzeptioneller Überbau zu entdecken und die Schwarz-in-Schwarz-Ästhetik des im Jahr 2013 neu aufgelegten und seitdem fest in der Szene etablierten Atonal Berlin scheint ebenfalls kohärenter. Aber was nicht perfekt, das heißt, ästhetisch abgeschlossen und in ein fixes Konzept eingemeindet ist, das hat den Vorteil der unbedingten Offenheit. Genau das ist es allerdings, was das Krake Festival seit jeher eigentlich ausmacht: Irgendwie ist alles von diesem Festival zu erwarten und dann kommen die Dinge doch wieder anders.

Das zeigte sich schon am 11. November um 15 Uhr, als Wes Beggaley vom Büro des ausrichtenden Labels KilleKill aus den Instagram-Kanal übernahm, um … Ja, was eigentlich? Zuerst einmal die Aussprache des Festivalnamens zu klären („Crocke!? Ah, no, it’s Kraaake!“), sich über mangelnde Einschaltquoten zu beschweren („There’s only four people watching!?“) und nebenbei noch ein paar Anekdoten zu erzählen. Gedacht war das Format wohl als eine Mischung aus Improv-Comedy und Kummerkastenonkel-Service, denn zwischen den bisweilen herben Witzchen rief der von einem Stofftier begleitete, in Ledermontur gekleidete DJ wieder und wieder dazu auf, sich doch bitte einzubringen. Ohne Erfolg indes.

Was bleibt, ist ein wenig amüsierte Ratlosigkeit über diese erratische Performance und ein paar Minuten Live-Schalte aus dem Auto von NiKi K, die mit Baggaly gemeinsam zum Studio von HÖR Berlin düst, wo das digitale Opening stattfindet. Schon mit den ersten beiden Auftritten – das Duo Playtronica spielt, na ja, spielerische Electronica als eine Art Showcase für die kuriosen, durch das gleichnamige Berliner Start-up hergestellten Instrumente, Second Storey wirbelt mit Drumsticks zu seinen muffigen Electro-Tracks – zeigt sich, dass in diesem Jahr trotz der hinsichtlich der Pandemierealität vorsichtigen Kuration ein Akzent des Festivals auf dem wie auch immer mittelbaren Live-Erlebnis liegt: Obwohl nur ein Event im Realraum stattfindet, ist das Programm vom Versuch gezeichnet, Einmaligkeit zu schaffen.

Wobei auch die DJ-Sets des Eröffnungstags damit aufwarten können. Das B2B zwischen DJ Glow und der beim Krake Festival seit jeher den Ton mitangebenden Alienata ist ein frühes Highlight, dem sogleich das nächste folgt: NiKi K balanciert mit einer beeindruckenden Unbekümmertheit zwischen perkussivem Electro, Rave-Throwbacks und wuchtigen Bassgebilden. Es geht kreuz und quer durch die verschiedenen Stimmungen und Energielevel; die perfekt ausbalancierten Dynamiken des Sets der Irin lassen zum Schluss allerhöchstens noch einen Wunsch offen – das Ganze dann doch nicht nur vorm Bildschirm, sondern stattdessen links vor der Booth miterlebt zu haben. Nach weiteren Sets von Baggaly und DJ Locati geht dieser Abend jedoch im Wohnzimmer zu Ende.

Vielleicht ist das aber nicht verkehrt, steht zumindest für die Berliner Crowd doch am Folgetag ein mehr als umfangreiches Programm an. Nach einer Abstimmung über eine Auswahl von zehn Musikvideos sowie einer weiteren Ausgabe von Baggalys angenehm derangiertem Personality-Format auf Instagram starten schließlich nicht nur über die Krake-Festival-Website ausgespielte Streams aus Clubs wie dem Londoner Fold und dem Sameheads in Neukölln, sondern ebenfalls das Club-Event „The Kraken“ in der Anomalie. Ganze 19 ½ Stunden soll es dort auf bis zu drei Floors gehen, das ist allemal eine lange Zeit.

© Virginia De Diaz
© Virginia De Diaz

Lautstärke ist Trumpf

Eröffnet wird das Hauptprogramm um Mitternacht von Noise-Gitarrist Caspar Brötzmann und Einstürzende-Neubauten-Mitglied FM Einheit. Wer der langen Schlange und der sorgsamen, soll heißen notwendigerweise zeitraubenden Einlasskontrollen wegen den Auftritt verpasst, bekommt immerhin von Anwesenden auf Nachfrage eine konzise Kurzzusammenfassung serviert: „Laut!“, heißt es. „So unfassbar laut!“ Spätestens beim folgenden Auftritt von Dis Fig soll sich allerdings zeigen, dass Lautstärke auf dem dereinst so gepriesenen Soundsystem der Anomalie über feinere Ansätze triumphiert.

Felicia Chen hat ihr spartanisches Set-up in der Mitte des Main-Floors platziert, Deckenlautsprecher und Publikum umkreisen sie. Doch während der bassige Unterboden ihrer Musik nur als dumpfes Grollen ankommt, ist von dem für ihren grenzensprengenden Sound so essenzielle Gesang – oder besser: das Geschrei – kaum etwas zu hören. Dafür aber umso mehr die pumpenden Beats von Ick-Mach-Welle-Mitglied Bläck Dävil aus dem Nebenraum. Chen hält sich trotz dieser widrigen Umstände wacker, das heißt, sie taumelt wieder und wieder durch die Menge. Es ist der richtige Sound und die richtige Performance, um einen Moshpit loszutreten – nur scheint deswegen kaum jemand gekommen zu sein.

Das Publikum in der Anomalie scheint sehr durchmischt. Kaum wird erkenntlich, wer Krake-Regular, wegen ausgewählter Acts wegen, doch aus Vertrauen zum Club oder schlicht aus Zufall hier ist. Daraus jedoch lässt sich genauso die Vielseitigkeit und Permeabilität des Programms ableiten, wie sich im Laufe der nächsten Stunden zeigen wird, dass selbst ein dermaßen heterogenes Publikum auf dem Dancefloor miteinander verschmelzen kann, solange der Sound nur stimmt. Denn das tut er.

Electro mag ein nie enden wollendes Revival feiern, in Berlin hat das Genre damit aber noch lange keinen festen Wohnsitz gewonnen – außer regelmäßig beim Krake Festival und in dieser Ausgabe auf dem Haupt-Floor, wo der Sound qua Lautstärke alle Interferenzen der Live- und DJ-Sets aus anderen Teilen des Gebäudes an sich abprallen lässt. Best Boy Electric, Solid Blake und Luz1e allein lassen mit ihren jeweils durchgehend fulminanten, zwischen tradierten Electro-Grooves oder Acid-Sounds sowie neuen und aufregenden Ansätzen gegen den Strich marschierender Clubmusik selbst eine heute geladene Legende wie CJ Bolland so alt aussehen, wie er rein rechnerisch im Vergleich zu ihnen auch ist. Wobei auch selbst der gut aufgelegte Belgier dann eben doch das Publikum genauso im Bann halten kann wie diese drei sehr unterschiedlichen, aber ähnlich versierten DJs vor und nach seinem Set.

Nachdem nach Live-Sets von etwa hundert-Mitbegründer Leibniz und einem B2B zwischen DJ Normal 4 und DJ Brada der zweite und der dritte Floor geschlossen wurden, bereitet sich alles aufs große Finale dieser langen, langen Nacht vor: Helena Hauff. Die allerdings macht wenig Aufheben um ihre Rolle als finale Headlinerin, sondern macht einfach ihre Arbeit, soll heißen, sie mixt einen unwahrscheinlichen Hit nach dem nächsten mit messerscharfer Präzision ineinander, ohne dabei in Schweiß auszubrechen. Als die letzte Kick verklungen ist, geht das Putzlicht an, blinzeln sich die Langgebliebenen und Spätergekommenen noch einmal unter der grellen Beleuchtung benebelt an und strömen langsam auf den Ausgang zu, jenseits dessen bereits wieder die Dunkelheit angebrochen ist.

© Virginia De Diaz
© Virginia De Diaz

Ein temporäres Zuhause für unbedingte Offenheit

Dass der Nach-Kraken-Kater enorm ausfällt, verwundert kaum, doch wird auch dafür gesorgt. Am Sonntag beginnt um 9 Uhr ein live-gestreamtes „Comedown“-Event. Wieder wird an spielzeugartigen Objekten herumgedreht, aufreibende Texturen ineinander gemischt und dank des Duos Vinyl Terror & Horror sogar Plattenspielertürme aufgebaut. Es gibt zum Abschluss noch einmal viel Interessantes und Unterschiedliches zu hören oder auch, wie im Falle des theatralischen Auftritts von Masma Dream World, virtuell als elaborierte Performance mitzuerleben. In nuce formuliert das Krake Festival noch einmal den eigenen Ansatz über knapp elf Stunden ein weiteres Mal aus: unbedingter Offenheit ein temporäres Zuhause geben, ob nun im Realraum oder auf dem Bildschirm.

Nun mag dieser wild wuchernde Ansatz sich in technologischer wie ästhetischer Hinsicht zwar nicht mit elaborierten Computerspielwelten messen können, auf die andere Festivals auswichen. Auch näherte sich das Krake Festival in diesem Jahr anders als anderswo nicht der Kunstwelt an und inszenierte Musik in aufregenden architektonischen Kontexten. Dafür machte es unter den erneut erschwerten Bedingungen etwas ganz anderes: Spaß. Die Art Spaß, die auch ein konzeptioneller Überbau oder eine stringent gehaltene Ästhetik nicht garantieren können, die sich aber so nur im anarchischen Clash der Unterschiede einstellt. Berlin mag stolz auf seine Geschichte des Unfertigen, der DIY-Mentalität und Einfach-mal-machen-Ideologie sein. Nur das Krake Festival allerdings überträgt sie dermaßen einnehmend in die Gegenwart.

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