Tripbericht: Metabolic Rift im Kraftwerk Berlin – Menschen im Sound zwischen Stahlbeton
© Frankie Casillo

Tripbericht: Metabolic Rift im Kraftwerk Berlin – Menschen im Sound zwischen Stahlbeton

Features. 6. November 2021 | / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Einen Monat lang öffnete das Kraftwerk unter dem Titel Metabolic Rift seine Pforten für eine Ausstellung, deren künstlerische Positionierungen ohne die Wirkmacht des Raums um sie herum kaum beeindruckt hätten. Die finalen Performances von ||||||||||||||||||||, Sam Shackleton und Wacław Zimpel sowie Klein bewiesen aber, dass die Ersatzveranstaltung für die diesjährige Ausgabe des Berlin Atonal auf die Wirkmacht von Sound und sozialen Erlebnissen speiste.

Nicht nur, dass in den letzten fünfzehn Jahren immer mehr kulturelle Orte in Berlin verschwanden, in den vergangenen anderthalb Jahren waren sie zudem kaum zugänglich und das Leben spielte sich überwiegend in den eigenen vier Wänden ab. Vor diesem Hintergrund überrascht es wohl nicht, dass in Berlin aktuell die Gebäude und Räumlichkeiten die eigentlichen Stars vieler Veranstaltungen sind. Der Flughafen Tegel wird mit Klangkunst verabschiedet, das ICC für Kunst und Musik geöffnet und Innervisions feiert sein hundertstes Release im Bierpinsel in Steglitz: Das bloße Dortsein wird zum Event, künstlerische Interventionen am Ort bekommen einen schmückenden Charakter. Dasselbe lässt sich wohl auch vom Kraftwerk sagen, das einen Monat lang für die Ausstellung und Konzertreihe Metabolic Rift geöffnet war und doch vor allem mit seiner Architektur zu beeindrucken wusste.

Wer an einer Führung durch die Ausstellung teilnahm, wurde zuerst in den Tresor geführt. Der ikonische Neonschriftzug über dem Eingang war dann allerdings für eine weite Strecke die einzige Lichtquelle, die den Weg beleuchtet, denn durch den Tunnel hin zum Floor ging es durch beinahe absolute Dunkelheit. Vorsichtig setzten die Besucher:innen einen Schritt vor den anderen, rempelten dann doch wieder ineinander, murmelten einander Entschuldigungen zu. Fast hat es den Anschein, als habe auf dem Weg zum Dancefloor nach anderthalb Jahren Stillstand die Clubsituation simuliert werden sollen.

Dort hingegen war eine mehrkanalige Soundinstallation von Pan Daijing zu hören, in einen Ecke stand ein mit einem kleinen Scheinwerfer angeleuchteter Eisblock, leise vor sich hinschmelzend. So gestaltete sich der unbeeindruckende Auftakt einer beeindruckenden Reise, die nach einem Gang durch die legendäre und ebenfalls stockdustere DJ-Booth in Teile des Gebäudes führte, welche zuvor nie der Öffentlichkeit zugänglich gewesen waren.

Wenig überraschend waren auf dem Weg durch die schlauchartigen und scheinbar endlosen Gänge vor allem skulpturale beziehungsweise installative Arbeiten und ortsspezifische Klangkunst zu erleben: Jeremy Toussaint-Baptiste ließ aus recyceltem Material bestehende Speaker von der Decke hängen und brummige Basstöne auf die Gehenden los, Werke von Giulia Cenci und Cezary Poniatowski waren im Raum arrangiert.

Wirklich eindrücklich schienen diese Werke an sich nicht, sie harmonierten aber in ihrem Gebrauch von bisweilen industriellem Material perfekt mit dem Raum, der darüber selbst zum Exponat wurde. Immer wieder zerstreute sich die kleine Gruppe, versuchten einzelne Personen durch Löcher in den massiven Betonwänden oder offenstehende Türen einen Blick auf die dahinterliegenden Innenräume zu erhaschen. Es liegt eine gewichtige Präsenz über dieser einstigen bloßen Arbeitsstätte, deren Architektur ursprünglich einen rein funktionalen Zweck verfolgte und heute aber als ästhetisches Objekt für sich selbst wirkt.

© Frankie Casillo
© Frankie Casillo

Eine Killasan im Dachgeschoss

Wirklich gebannt von der eigentlichen Ausstellung wurde die Gruppe erst, nachdem sie an einer von zugleich naiven wie lysergischen Zeichnungen dominierten Videoarbeit der über 90-jährigen Künstlerin Lillian Schwartz entlang den Weg zu einer Treppe nahm. Es ging hoch hinaus, vom Unter- bis ins Dachgeschoss.

Eine Sängerin performte ein wortloses Stück, bewegte sich Stufe für Stufe mit eleganten und langsamen Bewegungen nach oben – zu langsam, um die nachfolgenden Besucher:innen nicht in Verlegenheit zu bringen. Einige starrten sie an, andere fotografierten die albernen Schmierereien im Treppenhaus oder flüsterten leise miteinander. Das Resultat ist eine intensive soziale Situation, geprägt von einer merkwürdigen Mischung aus Angespanntheit und Ratlosigkeit. Es war die wortwörtlich lebendigste und konfrontativste Station des gesamten Wegs, der allerdings noch lange nicht zu Ende war.

Als die Sängerin mit starrem Blick und lauter Intonation die Reisegruppe durch das industrielle Paralleluniversum durch die Tür wies, fand die sich in einer riesigen, von natürlichem Lichteinfall wie eine Szenerie aus Game of Thrones wirkenden Halle wieder. In deren Mitte war auf einigen massiven Betonstreben auf dem Boden ein Soundsystem aufgebaut. Nicht wenige erkannten es schon von hinten: Es ist die von Fiedel kommissarisch betreute Killasan, ein zentraler Bestandteil der legendären Wax-Treatment-Partys. Zu hören: ein sphärischer Track von Jamal Moss, besser bekannt als Hieroglyphic Being.

Moss lieferte den Soundtrack für einen sogenannten Skydancer, eine von Gebläsen in Bewegung gesetzte, anthropomorphe Figur. Ein riesiger, einsamer Tänzer, der sich von der einen auf die andere Seite, nach vorne und nach hinten bewegt, keinem eigenen Willen folgend, vollständig abhängig von Luftströmungen. Es war ein ästhetisches und ausgesprochen instagrammables Kunstwerk von konzeptioneller Einfachheit, das Moss mit dem Künstler Cyprien Gaillard umgesetzt hatte.

Es markierte auch das Ende der festgelegten Route, die zuletzt in den Hauptraum des Kraftwerks führte und dort zur Ver- und aber auch Zerstreuung einlädt: Die Gäst:innen konnten frei von Station zu Station, von einer Installationsarbeit hin zum nächsten skulpturalen Gebilde strömen, in einem ehemaligen Pausenraum – es hingen tatsächlich Arbeitshelme an der Wand – einen Film über chinesische Arbeiter:innen anschauen oder im vormaligen Kontrollzentrum die von durchdringenden, sich ständig in Bewegung befindlichen Scheinwerfern in Rot und Grün nur ausschnittsweise beleuchteten Armaturen bewundern.

Über eine Leinwand wurde zwischendurch ein Video von der US-amerikanischen Rap-Crew Armand Hammer eingespielt, das einen gespenstischen Kontrapunkt zur fast andächtigen Atmosphäre in dem nur von wenigen Personen besuchten, gigantischen Raum setzte. Es war ein genialer kuratorischer Schachzug, nach dem konzentrierten Weg bis hierhin die Ausstellung individuell begeh- und erfahrbar zu machen: Die Bewunderung für die Architektur weicht einer Auseinandersetzung mit dem Selbst innerhalb des Raums.

© Frankie Casillo
© Helge Mundt

Der Raum als Verstärker der Erfahrung

Als am Abend des 30. Oktober nach Auftritten von unter anderem Tim Hecker, dem Moritz von Oswald Trio, Space Afrika und Caterina Barbieri der Abschluss der Konzertreihe begangen wird, tilgt jemand vor dem Kraftwerk bereits die Spuren der Ausstellung aus dem öffentlichen Raum: Die großflächige Plakatierung an der Köpenicker Straße wird Stück für Stück überklebt.

Drinnen präsentiert sich heute |||||||||||||||||||| zum ersten Mal live. Auf eine Art zumindest, denn statt einer Bühne sind lediglich Projektionen zu sehen, die auf einer großen Leinwand und den Wänden der Halle flimmern. Musikalisch bewegt sich das Set durch die Bereiche der UK-Sounds der neunziger Jahre, greift hier Ambient-Techno-Formeln auf, erinnert dort an den klassischen Warp-IDM oder rückt gar in die Bereiche von Trip-Hop vor. Doch der Sound ist komplex und vielschichtig, modern und geschickt ausproduziert. Die Musik wäre aber nicht halb so beeindruckend, würde die ungewöhnliche Konzertsituation – am Ende gibt es schallenden Applaus für einen Screen – nicht die audiovisuelle Erfahrung verstärken. Wieder wird der Raum zum Verstärker der Erfahrung.

In den Visuals des Sets wird das Überthema der Ausstellung reflektiert. Als “metabolischen Riss” bezeichnete Karl Marx die verheerenden ökologischen Auswirkungen des auf stetiger Akkumulation und Expansion basierenden Kapitalismus. Satellitenbildern von riesigen, mit geometrischer Präzision arrangierten Arealen wie Industriegebieten am Meer werden qua Pixelsorting gemorpht, Überlagerungen finden statt und verändern so ständig das Bild des Ewiggleichen, das durch ständige Revolution seiner Selbst irreversible Schäden in der Welt um sich herum anrichtet. Vor allem in einem stillgelegten, streng geometrisch gestalteten Kraftwerk entfaltet das eine beklemmende Dynamik.

Sam Shackleton und Wacław Zimpel dagegen verfolgen mit der Performance ihres ursprünglich für das Festival Unsound konzipierte Set keine offensichtlichen außermusikalischen Ziele, sondern füllen im Rahmen ihres ausgedehnten Konzerts den Raum mit mächtigen, basslastigen Drones des britischen Produzenten und den suchenden Klarinettenmelodien des polnischen Allrounders. Die beiden wiegen sich in einem Rhythmus hin und her, der nicht von Beats egal welcher Art vorgegeben wird, sondern dezent im Miteinander von Klangflächen und einzelnen Tönen entsteht. Die Zeit scheint zu zerfließen, der Raum sich zu weiten – es ist eine wortwörtlich durchdringende Erfahrung.

Als die “Diskomponistin” Klein die Bühne betritt, wird nach wenigen Minuten das Putzlicht angeknipst. Mit einem Schlag verschiebt sich die Stimmung, scheint das vom Soundsud vollgedröhnte Publikum aufzuwachen. Auch Kleins gitarrenbasierte Performance setzt andere Akzente als Shackleton und Zimpel. Hatten die beiden eben noch Minimalismus mit einem Fokus auf die Schichtungen von Klängen, auf feine Differenzen, praktiziert, setzt sie auf die Macht der Wiederholung. Wieder und wieder ertönen motone musikalische Figuren, die ebenso harsch klingen, wie sie einlullende Effekte haben. Noise, aber als Trance-Trigger.

Als das Licht wieder schlagartig ausgeht, ist das kaum merklich und auch das recht abrupte Ende der Performance – Klein stellt die Gitarre beiseite und huscht von der Bühne – wirkt weniger überraschend als vielmehr organisch. Es ist das fulminante Finale eines Abends, der die Crowd benebelt zurücklässt, besoffen von der Architektur und dem Miteinander darin. Als Schlussstrich unter Metabolic Rift haben diese drei Sets mit sehr unterschiedlichen Mitteln erfahrbar gemacht, was das nach anderthalb Jahren vor der eigenen Raufasertapete bedeuten kann: Menschen im Sound zwischen Stahlbeton zu versammeln, in Bewegung unter- und miteinander zu bringen.

© Giulia Cenci
© Joseph Mault

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