Guide: Musikalische Kooperation in Zeiten von Corona

Guide: Musikalische Kooperation in Zeiten von Corona

Workshops. 11. April 2020 | / 5,0

Geschrieben von:
Carlotta Jacobi

Inmitten der Vorbereitungen eines gemeinsamen Livesets erschüttert das Coronavirus mich, meine musikalische Partnerin und etliche andere MusikerInnen: Um dessen Verbreitung zu verlangsamen, wird binnen weniger Stunden eine Veranstaltung nach der anderen (vernünftigerweise) abgesagt und neben den finanziellen Einbußen entsteht plötzlich eine Motivationsleere. Monatelang haben wir uns auf unser Liveset vorbereitet, nun ist es temporär auf Eis gelegt. Bis ein neuer Termin zur Zusammenarbeit gefunden wird, könnte es eine ganze Weile dauern.

Als sich meine Frustration langsam legt, frage ich mich, wie mit dieser neuen Situation umzugehen ist: Einerseits finde ich die opportunistische Einverleibung einer Krisensituation problematisch, die sowohl für Menschenleben als auch für diverse Institutionen existenzbedrohend ist, insbesondere im Bereich der Kunst- und (Club-)Kulturschaffenden.

Andererseits sagt mir mein Pragmatismus, dass ich diese Zeit nutzen möchte, um etwas Interessantes hervorzubringen. Wenn existenzielle Sorgen die Schattenseite dieser Krise für Kunstschaffende darstellen, so könnten Entschleunigung, mehr Raum für neue Ideen und für Veränderungen die Vorzüge dieser auferlegten Pause sein. Dass Not erfinderisch macht, zeigt etwa die Vielfalt an Livestreams, die momentan wie Pilze aus dem Boden schießen. Sie sollen nicht nur zur Unterhaltung dienen, sondern auch bei der Existenzsicherung von Clubs und anderen Kulturinstitutionen helfen.

Für MusikproduzentInnen stellt sich nun die Frage, wie man in Zeiten der sozialen Isolation Momente des Schaffens miteinander herstellen kann. Langsam überkommt mich wieder die Lust, am gemeinsamen Liveset weiterzuarbeiten. Mir schwebt etwa eine Art Skype-Gespräch mit synchronisierten DAWs vor, mit möglichst guter Audioqualität und (möglichst) keinen Verzögerungen. “Gibt es so etwas?”, frage ich mich.

Als ich einen Aufruf auf Instagram starte und nach Möglichkeiten musikalischer Kooperationen in Zeiten des Coronavirus frage, geben die Antworten zunächst wenig Anlass zur Hoffnung: Sie bestätigen meine Zweifel, dass es aufgrund hoher Latenzen nicht oder nur schwer möglich sei, räumliche Distanz zu überbrücken. Bleibt also nur die klassische Variante?

Dateien verschicken

Der oldschool Weg der musikalischen Kooperation auf Distanz besteht darin, Dateien, einzelne Audio-Clips oder Projekte hin- und herzuschicken. Da sich über E-mail-Programme häufig nur limitierte Datenmengen verschicken lassen, empfehlen sich kostenlose Angebote wie WeTransfer, gemeinsame Dropbox Ordner etc. Auch über den Messenger-Service Telegram lassen sich erstaunliche Datenmengen verschicken. Umständlich daran ist jedoch, dass auf diesem Wege weder direktes Kommentieren noch Updates möglich sind; jede Version muss neu hochgeladen werden und das kostet Zeit und Nerven. Bei meiner Recherche stoße ich auf eine progressivere und zeitsparende Lösung:

Splice Studio

Während Splice primär als Anbieter für Samples und Plugins bekannt ist, funktioniert es auch als Cloud Storage Plattform. In der Desktop-App lässt sich das gemeinsame Projekt speichern und eine unkomplizierte Zusammenarbeit mit mehreren TeilnehmerInnen realisieren. Veränderungen in Projekten werden in der Cloud aktualisiert, sodass kein Hin- und Her-Schicken mehr nötig ist. Darüber hinaus gibt es eine Browser-Version, die zusätzliche Optionen anbietet: Etwa eine Preview-Funktion, mit der einzelne Clips angehört werden können, sowie eine Kommentarfunktion, die zum Beispiel in Mixing-Prozessen hilfreich ist.

Außerdem kann man über die Browser-Version auf unterschiedliche Arbeitsstände zurückgreifen, die in der „Project Timeline“ als Backups gespeichert werden. Splice Studio gibt es für Mac OS X und Microsoft Windows und funktioniert für die DAWs Ableton Live, Logic Pro X, GarageBand und FL Studio. Voraussetzung für eine Zusammenarbeit ist, dass alle KollaborateurInnen mit der gleichen Version der DAW arbeiten.

Auch gut zu wissen: Das Collaboration-System von Splice ist kostenlos.
Eine wertvolle Anleitung zur Funktionsweise von Splice gibt’s auf YouTube und eine gute Erklärung zum Einstieg findet sich auf dem Blog von Spice.

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Splice erleichtert das gemeinsame Arbeiten an Musik. Allerdings fehlt dabei die Möglichkeit, gleichzeitig an Tracks zu arbeiten und sich dabei gegenseitig zu inspirieren.

Splice up the game with…

Wem die Möglichkeit zur verbalen Kommunikation wichtig ist, kann sich zusätzlich über Videochats wie Skype und Zoom über Projekte austauschen. Auch die Möglichkeit, Screensharing-Apps zu nutzen, um auf den Bildschirm der KooperationspartnerInnen zurückgreifen zu können, könnte interessant sein. Da bei Videochats wie Skype die Audioqualität oftmals zu schlecht ist, empfiehlt es sich allerdings, Audio über externe Programme direkt in die DAW zu übertragen. Dafür sind in den vergangenen Jahren einige interessante Optionen entstanden, mit denen sich (fast) in Echtzeit Audiostreams übertragen lassen:

In the DAW collaboration tools

Das ListenTo Plugin von Audiomovers beispielsweise könnte für viele eine neue Lösung in der Kollaboration auf Distanz sein, da es eine Möglichkeit bietet, in hoher Qualität Audio zu übertragen – und das sogar in real-time. Mit dem ListenTo Plugin kann ein Link generiert werden, den die kollaborierende Person in ihrem Browser öffnen und das Audiosignal streamen kann. Dieses lässt sich dann mithilfe des ListenTo Receiver Plugins in die eigene DAW integrieren und die Latenzzeit einstellen (der niedrigste Wert liegt bei 0,1 Sekunden). Potenziell könnten also beide einen Link generieren und sich über einen Videochat oder ein Screen-sharing-Programm verbinden, was dem gemeinsamen Musikmachen schon recht nahekommt.

Während das Plugin für Remote Mixing, Mastering und Produktion-Sessions in Frage kommen könnte, wäre die Latenz zum Live-Recording für Bands weit zu hoch. Auch fehlt elektronischen MusikerInnen die Sync-Funktion und es kommt möglicherweise zu Jitter-Problemen, also dem Auseinanderlaufen der Spuren trotz gleicher BPM-Zahlen. Die manuelle Tempo-Angleichung stört den Workflow leider erheblich.

Das ist allerdings Meckern auf hohem Niveau: ListenTo und vergleichbare Apps stellen einen großen Fortschritt dar und bieten Musikschaffenden weltweit die Möglichkeit, miteinander zu kollaborieren – Distanz und Coronavirus hin oder her. Wie man ListenTo nutzen kann, zeigt dieses Tutorial:

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Audiomovers Website

Sessionwire

Einen besonders einfachen und schnellen Austausch ermöglicht Sessionwire: Die App ist Videochat, Interface und Datentransfermöglichkeit zugleich, über die sich in kürzester Zeit Stems hin- und herschicken lassen. Dafür müssen lediglich die gewarpten Dateien in den Videochat gezogen werden und können dann in der DAW der anderen Person geöffnet werden. Durch ein anschließendes Warpen ist auch ein BPM-genaues Timing möglich. So kommt der Workflow dem einer Recording-Session im Studio recht nahe.

Ein weiterer Vorteil von Sessionwire ist, dass sich NutzerInnen mit unterschiedlichen DAWs verbinden können. Wer die Arbeitsweise ausprobieren möchte, kann die App vierzehn Tage lang kostenlos testen, danach kann Sessionwire monatlich oder jährlich gekauft werden. Bisher ist die App nur für MacOS erhältlich, eine Version für Windows ist in Arbeit. Dieses Tutorial veranschaulicht die Funktionsweise:

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Weitere Alternativen für real-time Audiostreaming in hoher Qualität sind Cockos Ninjam und Studio Gate. Die VST Connect Pro von Steinberg eignet sich besonders für Live-Recordings zwischen ProduzentInnen und KünstlerInnen: Dafür braucht die eine Seite Cubase Pro und die VST Connect Pro; der/die Artist benötigt nur ein Interface, ein Mikro und die kostenlose Connect Performer Application.

Sessionwire Website

Versprechen an die Zukunft: Soundtrap

Spannend ist übrigens auch, was die schwedische Firma Soundtrap schon seit geraumer Zeit entwickelt: Das gleichnamige Produkt ist eine DAW, die komplett über den Browser funktioniert und daher auch in Sachen Kollaborationen alle Vorteile einer Cloud-Plattform mit sich bringt. Es kann gleichzeitig an einem Projekt gearbeitet, kommentiert und sich per implementierten Video-Chat ausgetauscht werden. Außerdem setzt Soundtrap nicht nur auf direkte Kontakte, über eine Art Marketplace bieten sich auch fremde KünstlerInnen zu Kooperationen an. Ebenfalls sehr praktisch: Auch via iOS- oder Android-App lässt sich auf die eigenen Tracks zugreifen, sodass unterwegs Ideen ausgearbeitet oder gehört werden können.

Zwar ist die jetzige Fassung noch relativ abgespeckt was virtuelle Instrumente und Effekte anbelangt, jedoch gibt es auch die Option eigene Sounds und Aufnahmen einzubinden. Dadurch dass das Unternehmen Ende 2017 von Spotify aufgekauft wurde, kann mit einem langfristigem Ausbau der Features und Möglichkeiten gerechnet werden.

https://www.youtube.com/watch?v=0XtsEueP28M

Soundtrap Website

Fazit

Wie meine Suche ergeben hat, gibt es einige gute Möglichkeiten der musikalischen Zusammenarbeit zum Überbrücken der Selbstisolation und räumlichen Trennung während der Quarantäne. Trotz einer schnellen Internetverbindung sind Latenzen selten ganz zu überwinden und es ist eben doch nicht dasselbe wie beieinander zu sitzen und Musik zu produzieren. Am Ende verhält es sich ähnlich wie mit den diversen Livestreams, die die Phase der Isolation versüßen, einen wirklichen Ersatz aber nicht bieten können. Vielleicht muss die ideale Lösung noch erfunden werden – ein weiteres Projekt für diese Zeit?

Veröffentlicht in Workshops und getaggt mit Audiomovers , DAW , Kollaboration , Kooperation , ListenTo , Sessionwire

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