Review: Yannick Labbé - Krätze (Novelle + OST)
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Review: Yannick Labbé - Krätze (Novelle + OST)

Features. 14. Juli 2019 | / 5,0

Geschrieben von:
Tim Tschentscher

Ach, herrlich. Viel zu selten gelingen der Techno- und Houseszene noch solche unbeeindruckten und von aller Entschlossenheit durchdrungenen Liebhaberprojekte wie 'Krätze', ein Buch! Höchst unprätentiös, aber – so ist zu hoffen – doch eine Spur zu drüber ist die Geschichte, um aus dem Leben gegriffen zu sein. Yannick Labbé, DJ, Produzent, heute unter seinem wirklichen Namen und einst mit Daniel Becker sehr erfolgreich als Trickski unterwegs, hat in Kollaboration mit dem Berliner Verlag 'Present Books' und dem Leipziger Label 'O*RS' eine Kurzgeschichte veröffentlicht. Die Novelle beschreibt die Ohnmachtsfantasie einer am Rande von Lebensüberdruss und Medikamentenmissbrauch stehenden verlorenen Seele. Es geht um den täglichen Weltschmerz eines Normalos in der Großstadt, um die Abgefucktheit des Alltags, um Scheiße schlemmende Tauben. Krätze ist die schlechte Laune auf dem Nachhauseweg, aufgeschrieben auf kaum mehr als 50 Seiten. Dazu kommt eine seltsam heitere 5-Track-EP, die dem Buch zynisch gebrochen an der Wade kaut.

Worum geht es in der Schrift? LeserInnen werden als Beobachter mitten in das Geschehen gespawnt. Aus der Ich-Perspektive heraus erzählt Labbé von einem Protagonisten, der einen Anruf von einem Freund namens Lust erhält. Lust bittet um ein Treffen, es gibt etwas Dringendes zu besprechen. Alles scheint das Ich zu triggern. Gerüche, Geräusche, Gedanken. Dinge, die da sind und die Dinge, die nicht mehr da sind, aber mal da waren. Auf bestem Wege in eine Lebenskrise abrutschend, rührt sich anfangs noch etwas Widerstand in der Erzählfigur. Wut und Aggressionen sind immerhin noch echte Emotionen. Was es mit Lust zu besprechen gibt? Keine Ahnung, nicht zugehört. Die Figur hat Mühe, sich auf einfachste Dinge zu konzentrieren. Stille Kräfte versammeln sich bereits um den Protagonisten. Es riecht nach Ärger.

In einer Bar bemerkt die Figur eine Gruppe junger Heranwachsender. Alle Beteiligten haben wohl “von irgendetwas zu viel” konsumiert und die Ralph-Lauren-Chino-Combis triggern immens. “Ich glaube, ich bin depressiv”, schätzt der Protagonist ins Dunkle hinein. Kollege Lust hört zwar zu, aber überhört die Botschaft gänzlich. Getroffen von der Erkenntnis scheint der Protagonist sich immer weiter sozial zu isolieren. Nur Lust sucht in der Folge noch den Kontakt. So ringt das Ich am Telefon um Ausreden nicht aufstehen zu müssen, es gelingt jedoch selten. Wenig später ist in Lusts Büro Chaos ausgebrochen. Auf Drängen Lusts soll der Protagonist möglichst schnell erscheinen. Lusts Kiefermühle mahlt, die Einrichtung liegt zerteilt auf dem Boden. Lust scheint eine Panikattacke zu bekommen. Noch an der Tür verpasst Lust seinem Freund einen Schlag an den Kopf. Er beginnt zu bluten und läuft nach Hause.

Nach einer gefährlichen Mischung aus Codein-Pastillen und Tramadol landet die Ich-Figur über Umwegen einer Nahtoderfahrung und anschließendem Koma in einem Krankenhausbett. Autor Labbé wechselt hier immer wieder zwischen schockierenden Bildern, spricht beispielsweise von der Freiheit zu entscheiden weiteratmen zu wollen und bricht diese nur wenige Zeilen später mit humoristischer Situationskomik, die mit minimalstem Aufwand gelingt ohne als Flachwitz zu enden: Eine von einer Krankenpflegerin gereichte Flasche Pfirsichsaftkonzentrat ist “genau die Scheiße, die einen fett macht. Genau so was.” Die Figur scheint in seiner existenziellen Krise angekommen und Labbé bietet die voyeuristische Gelegenheit, dabei zusehen zu können.

Die Nahtoderfahrung, die Behandlung im Krankenhaus, die Überdosis, der Kopfschmerz, all das führt zu der Erkenntnis, das Gefühl für Zeit gänzlich missachtet, gar abgelegt zu haben. Und wie unbeschreiblich bequem, gemütlich und einfach geil sich das anfühlen muss. Doch bei aller Härte und Ausgekotztheit: Die Novelle 'Krätze' ist mehr zum Lachen als zum Weinen. Nicht aber zum Auslachen, sondern zum Lachen über besagte Beschissenheit der Dinge. Das macht Spaß, weil es so furchtbar ist.

Tage später besucht der Protagonist mit Lust einen Club. Selbstverständlich kommt es bereits an der Tür zu Stress, dann an der Kasse. Und natürlich sind die DJs scheiße, die ihr Italo-Disco-Laptop-Set als Kunst verkaufen wollen. Niemand interessiert sich im Club für Kunst. Nach einer Begegnung mit einem zugekoksten Bekannten schläft Lust auf einer Couch ein. Plötzlich steht der Protagonist allein in dem Geschehen des Clubs und sinniert erneut über die synthetische Freude des Publikums, der Ausdruckslosigkeit des Feierns und eben der Beschissenheit deutscher Tanzflächen.

Durch eine Begegnung auf dem Klo nimmt die Figur eine Bekannte mit nach Hause. Nach heftigem und von Labbé genussvoll detailliert beschriebenem Geschlechtsverkehr gleitet der Protagonist in eine Ohnmacht ab. Zuletzt wacht er in einer leeren, stockdunklen Lagerhalle auf und kann sich an nichts erinnern. Was ist passiert? Wo befindet sich der Protagonist? Wie steht es um die physische und psychische Gesundheit der Figur? Ist überhaupt etwas passiert?

Wie die Novelle endet, muss selbst nachgelesen werden. In jedem Fall aber scheint die Erzählform auch von David Lynchs experimentellen Narrationssträngen inspiriert worden zu sein. Labbés begleitender Soundtrack zeigt die seltsam gebrochene Dynamik eines durchschnittlichen Dancefloors. Manchen geht es gut, manchen geht es schlecht, trotzdem tanzen alle. Zwischen Italo-Synthies, sattem Peak-Time-House und melodischen Rhythmen liefert Labbé ein Begleitwerk, das den Wendepunkt der Geschichte im Club passend untermalt. Die EP scheint merkwürdig heiter, enorm vereinnahmend, alles andere als rotzig produziert und fast ebenbürtig für ein Open-Air-Closing der größeren Sorte. Obwohl sowohl das Buch als auch die EP hätten allein stehen können, entsteht zusammen eine noch eindrücklichere Erfahrung: Vor allem im Kontext des Buchs trägt der Mangel an Dramatik des Soundtracks zur Dramatik der Geschichte bei.

'Krätze' erschien am 28. Juni bei Present Books und auf O*RS.

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