"Live” ist im Techno ein schönes Versprechen. Meist bedeutet es – Klammer auf – jemand starrt in einen Laptop, bewegt zwei Finger auf einem MIDI-Controller und nickt dann sehr konzentriert zur Masterspur – Klammer zu.
Dann gibt es die, bei denen wirklich jemand auf der Bühne steht, schwitzt, Fehler macht, Kabel zieht, schreit, stirbt und manchmal wieder aufersteht. Acts, bei denen auch das Scheitern ein Teil der Performance ist. Weil das Format Live im Techno eben nicht nur Illusion ist, sondern im besten Fall: Eskalation. Oder zumindest mehr als ein USB-Stick im CDJ.
Diese Liste ist keine Hall of Fame. Auch kein Techno-Live-Acts Ranking. Sie versammelt Performerinnen, Tüftler, Krachmacher, Konzeptfetischistinnen und ein paar, die einfach aus Versehen über Techno gestolpert sind und danach schnell weitergelaufen sind.
Hardfloor, Hardcore
Zwei Mittvierziger in Outdoorjacken. Vor ihnen: Salat. Hinter ihnen: ein Wald. Dazwischen das Publikum, das hofft, dass wenigstens einer von beiden irgendwann mal Emotionen zeigt. Tun sie nicht. Hardfloor sind nämlich wie schlecht gelaunte Elektrolehrlinge in der Probezeit. Aber eben auch: die letzte Bastion gegen das post-digitale DJ-Geklicke.

Acid, sagen sie, komme aus dem Bauch. Bei Hardfloor klingt das wie eine Magenverstimmung mit Stil. "Acperience 1” ist nicht nur ein Track, das Ding ist ein Mantra aus der Quietscheente 303, das sich in die Gehirnrinde fräst wie ein Versicherungsvertreter auf LSD. Ja, das ist Techno zum Mitdenken oder Abschalten. Wie immer kommt es auf die Dosis an.
Denn Hardfloor sind der Audi 80 des Techno: unsexy, aber wenn man einmal drin sitzt, will man gar nicht mehr raus. Aus der Vergangenheit. Wo es noch immer kein Instagram gibt. Nur eine Ahnung davon, wie das alles angefangen hat, bevor DJs zu Wellness-Influencern wurden.
aya, ah ja!
Wenn aya auftritt, hört sich das so an, als würde jemand versuchen, seine eigene Geburt rückgängig zu machen. Mit Feedbackschleifen, Desinfektionsspraygeruch und, na ja, Blut. Das ist also eher Echtzeitexorzismus als Erwartungshorizont. Und wenn, dann nur zersägt mit einer rostigen Flex, weil: Noise, Industrial, Performance Art und Techno. Immer ziemlich zu viel, aber eben ziemlich genau richtig.
Sie spielt in Kellergewölben, auf linken Festivals, in Kunstinstitutionen, die noch denken, Subversion sei ein Raumduft. Egal wo, ihr Live-Set ist körperlich, also wirklich: Sie springt ins Publikum und ist vielleicht nicht Techno aus dem Lehrbuch, aber alles, was Techno mal war, bevor er von Getränkesponsoren und Awareness-Beauftragten weichgespült wurde.
Und so brüllt aya zwar rum, aber nur aus Protest. Gegen die Welt, gegen das, was Zwei-Semester-Intellektuelle normative Erwartungen nennen – oder einfach nur, weil sich das bei Techno geil anhört.
Octave One, Two, Three.
Für Funktionsjacken und Deuterrucksäcke sind sie nicht Deutsch genug. Das heißt, Octave One sitzen lieber in einem Cockpit, das aussieht wie das NASA-Kontrollzentrum kurz vor dem Challenger-Start. Trotzdem, es fehlen die Hollywood-Gesten, die Pyro-Posen. Und wo sind eigentlich die LED-Wände mit Clipart-Vulkanen?

Na ja, hier gibt es nur: Hände auf Knöpfen für Beats. Das sieht absichtlich wie Arbeit aus. Die Schweißperlen auf der Stirn sind nicht nachträglich reingeshoppt. Sogar die stoische Verweigerung von Blickkontakt mit dem Publikum ist echt. Octave One sind nämlich nicht für die Timeline gemacht. Sie sind eher das, was coole Journalisten als Chronisten beschreiben: Archivare eines Sounds, der nie bloß musikalisch war, aber immer bla, bla.
Look Mum No Computer
Es fängt an mit einem Gameboy und hört auf mit einem furzenden Synthesizer. Dazwischen: ein britischer Irrer mit 1.000-Volt-Haaren und einem Youtube-Kanal, der aussieht wie die Technikkammer von Frankenstein. Look Mum No Computer baut aus Toastern, alten Oszillatoren und Berlins beliebtesten Flohmärkten das, was manche Menschen Klangmaschinen nennen. In Realo aber eher so klingt, wie ein elektroakustisches Inferno mit Kindersicherung.
Der ganze Aufbau knarzt, blinkt, wackelt, als würde jeden Moment ein Rauchmelder losgehen. Und während er da mit seinen Patchkabeln kämpft wie ein Dreijähriger mit Spaghetti, springt er plötzlich ans Mikro, schreit, singt, schreit nochmal – und alles zerschellt in seinem Furby-Orchester, das so kaputt ist, dass es wieder schön wird.
Das mag nie Techno im klassischen Sinn sein, aber dafür kann man ja in die Oper gehen. Hier greift man noch absichtlich in die Steckdose, weil das ja irgendwie auch Anarchie ist. Konzerte verlässt man übrigens mit dem Gefühl, man könnte sich auch einen Synthesizer aus einem alten Drucker bauen. Ohne Regeln. Nur mit Autobatterien.
Colin Benders, du Legende!
Modularsynths sind das Gleiche wie Craft-Bier: Man steht davor, tut so, als würde man alles schmecken – weiß aber eigentlich nicht mal, was genau Bier ist. Colin Benders weiß es, zumindest: das mit den blinkenden Kästen. Er stöpselt und dreht und tut, während andere beim Einsteigertutorial aussteigen.
Sagen wir es sicherheitshalber dazu: Benders ist keiner dieser "Ich hab mir auch so ein Eurorack gekauft”-Typen, damit man jetzt auch mal ein bisschen Deadmau5 sein kann. Er macht das nicht für die Likes, er muss sich da einfach verlängern. Weil er nur so der lebende Beweis ist, dass Maschinen Seele haben können.
Mit der richtigen Spannung klingt das nach Free Jazz in der Raumstation. Ein andermal wie Berghain ohne Garten. Und man schaut zu, als würde jemand so mir-nichts-dir-nichts das Internet neu verkabeln.
Hände hoch, Underground Resistance
Früher, das klingt schon wie ein Witz – aber UR war früher. Die 90er in Detroit: Autoindustrie am Ende, alles kaputt, und zwischendrin: Mad Mike, Jeff Mills, Robert Hood. Sogenannte Maschinenmenschen mit einem Ziel. Nicht Fame, nicht Geld. Einfach nur militanter Widerstand.
Heute meinen manche: UR ist ein Mythos. Andere sagen: UR ist ein Hoodie. Beides stimmt. Wer das UR-Logo trägt, trägt auch Verantwortung. Für Techno. Für Detroit. Vielleicht auch für das, was mal als Widerstand gedacht war und jetzt als Spotify-Playlist mit AI-generiertem Cover endet. UR war nämlich nie nur Musik. UR war ein Manifest für die 909, ein Kampfansage mit Presslufthammer. Und irgendein Kurator findet sich immer, der das unbedingt politisch findet.
Aber gut. Live gab es ja den Sound und der war so, als hätte sich jemand mit einem Flammenwerfer durch den letzten Engel der Geschichte geschraubt – rückwärts, mit Funk und Jazz, Hauptsache ohne Helm. Und natürlich, meine lieben Kuratorenmenschen, war das sicher mal politisch, aber inzwischen weiß keiner mehr so genau, was eigentlich das Anliegen war. Wahrscheinlich, einfach: weitermachen.
DJ Marcelle, elle, elle, eh!
Sie ist die Ausnahme von der Ausnahme. Und die seltsamste Antwort auf eine Frage, die man am besten bei ChatGPT reinhämmert: Wie klingt es, wenn man mit drei Plattenspielern und absolutem Desinteresse an Genregrenzen einen Raum zerlegt?
Tja, jetzt kommt es: DJ Marcelle spielt keine Musik. Sie spielt mit Musik. Und zwar so, als wäre sie entweder Dadaistin, Ornithologin oder , Ornette Coleman oder Ballettlehrerin für verhaltensauffällige Kinder. Live-Act kann man das nur nennen, wenn man dran glaubt. Es ist aber eher ein akustischer Verkehrsunfall, bei dem man hinhören muss. Kuhglocken, Industrial-Noise, ungarischer Post-Punk, holländische Radiomitschnitte von 1973, ein bisschen Dub, dann wieder nur "Quak Quak Quak” in Endlosschleife. Und plötzlich tanzen alle, als sei das normal.
Sie steht hinter ihren Decks wie eine intellektuelle Hexe mit Humorproblem. Macht Faxen, hüpft, zeigt Plattencover in die Menge, als wären das Manifest-Auszüge. Manchmal lacht sie selbst. Wahrscheinlich über uns. Weil wir glauben, es handle sich um ein DJ-Set. Dabei ist es eine Intervention. Eine Attacke auf unsere Spotify-verseuchte Erwartungshaltung, die manchmal in die Badehose schlüpft.
Cosey Fanni Tutti, Frutti
Apropos normal. Techno war ja bis vor Kurzem nie normal. Und das hier? War Baustellenlärm. Oder Baustellenschmutz. Jedenfalls das Gegenteil von der Baustelle Clubkultur. Und trotzdem steht sie hier. Weil Cosey Fanni Tutti alles vorweggenommen hat, was später als "Live-Act” in die Szene eingemeindet wurde: Risiko, Konfrontation, die Überforderung durch sogenannten Klang. Wer deshalb heute über elektronische Live-Musik spricht, ohne Cosey zu erwähnen, sollte seine Festplatte neu formatieren.

Mit Throbbing Gristle hat sie zwar zwischenzeitlich den Dancefloors zersetzt. Ich mein: Die Konzerte waren keine Auftritte, sie waren Zumutungen. Menschen gingen raus. Menschen weinten. Menschen warfen mit Dingen. Und Cosey stand da, ungerührt, mit Gitarrenfeedback, Bandmaschinen und zerrissener Stimme, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, den Raum in eine Falle zu verwandeln.
Gut, das Wort Safer Space war noch keiner clubkulturellen Paneldiskussion entsprungen. Aber was hätte es auch gebracht: Wenn jemand Krieg führt – gegen das Format, gegen die Erwartung, gegen alles – dann ist der einzige safe space dein Glaube an Chemie.
Dass sie streng genommen nie die Sprache Techno gesprochen hat, ist also egal. Man hat sie trotzdem verstanden. Vielleicht zu spät. Vielleicht nie ganz. Aber gespürt hat man es schon. Oder?
Gefrierpunkt: Polar Inertia
Man weiß bis heute nicht, wer sie sind. Zumindest offiziell. Vielleicht ist Polar Inertia ein Live-Act. Vielleicht aber auch einfach das, was passiert, wenn ein französisches Architekturkollektiv zu viele J.G.-Ballard-Romane inhaliert und dann beschließt, mit Wechselstrom die Zukunft zu verlangsamen.
Wer das mal live gesehen hat, hat eigentlich nichts gesehen. Silhouetten, die wie wartende Gestalten auf einem Bahnsteig wirken, irgendwo zwischen postindustrieller Dystopie und Gothic-Fashion-Show. Kontakt zum Publikum gibt es nicht. Ansagen, Bewegungen, Contact-Highs? Eher auch nicht. Dafür halt tiefer, präziser Techno, als käme er aus einem stillgelegten CERN-Tunnel. Und drüber: Stimmen aus dem Off, Field Recordings, intelligente Zeitlupensätze.
Man steht drin wie in einem Brutkasten für paranoide Tripgedanken. Und am Ende bleibt man zurück wie nach einem Blackout in der eigenen Erinnerung. Hat das gerade stattgefunden? War das ein Traum? Ist man vielleicht selbst jetzt Teil dieses Projekts? Na ja, vielleicht ist das ja die Pointe.
Mathew Jonson, der Marionettenspieler
Eine Roland SH-101, ein paar modulare Boxen, ein Blick wie ein kanadischer Waldschamane nach drei Tagen Pilzdiät. Der Rest ist Bewegung. Nicht die des Körpers, sondern die der Zeit. Wenn Jonson spielt, klingt es wie Detroit, das auf Sun Ra trifft und dann in einem Club in Osaka steckenbleibt.
Sein größter Hit ist ein Track, der klingt, als hätte jemand Clockwork Orange mit Kraftwerk synchronisiert und dabei vergessen, dass Menschen Gefühle haben. Live spielt er ihn nie gleich. Überhaupt: Nichts ist bei ihm gleich. Jonson gehört zu den wenigen, bei denen man noch sagen kann: Ja, das ist ein Konzert. Kein Set, kein Ableton-Looping, kein vorberechnetes Audio-Sudoku. Sondern echte Impro.
Mathew Jonson ist deshalb der Typ, bei dem man plötzlich glaubt, Techno wäre doch ein Genre für Erwachsene. Und dann haut er einen Arpeggio rein, der klingt wie ein LSD-getränkter Zungenkuss auf einer Super-Mario-Lan-Party. Und plötzlich steht man wieder da, wie damals mit 14 vor dem ersten Rave.
Orbital kaut gut!
Zwei Brüder mit Taschenlampen auf der Stirn. Man könnte sagen: Orbital waren die ersten, die Live-Techno nicht wie eine Maschinenbau-Vorlesung aussehen ließen. Oder zumindest die ersten, die das Nerdige etwas versteckt haben. Und dabei zufällig die Pop-Hymne einer sogenannten Generation geschrieben haben.
Eh klar, dass da ein bisschen zu viel Gefühl, ein bisschen zu wenig Darkroom drin ist. Aber genau das machte sie aus. Sie waren nie Posterboys. Eher so: die Cousins, die sich heimlich in der Garage ein Studio gebaut haben und dann plötzlich bei Glastonbury stehen. "Halcyon + On + On” funktioniert trotzdem noch immer. Und wenn auch nur für nostalgische Gefühle.
Orbital spielen heute noch, ja, aber der Mythos wohnt woanders. In VHS-Mitschnitten, in Reddit-Threads, in der Art, wie sich "Belfast” irgendwo zwischen Hoffnung und Wetterbericht einreiht. Man hört sie und denkt: Vielleicht war das alles doch ein bisschen besser früher. Und dann merkt man, dass sie genau dieses Gefühl immer schon mitverkauft haben, ganz ohne es je zu behaupten.
Frau Doktor Delia Derbyshire
Ok, gut. Delia hat nie Techno gespielt, zumindest nicht im klassischen Sinn. Sie war eine Tüftlerin, die im BBC-Labor in den 60ern elektronische Musik erfand, bevor es elektronische Musik gab. Ihre Arbeit klingt heute wie ein Aufschrei aus der Tiefe der Zeit — abstrakt, manchmal sogar unheimlich, aber immer mit dem untrüglichen Drang, Klang neu zu denken. Und zwar analog, also: live, bevor das Wort "Live-Act” überhaupt existierte.
Sie manipulierte Tonbandgeräte, schnitt Bänder, schichtete Geräusche übereinander, bis sie etwas schuf, das sich nicht mehr vom Urknall unterscheiden ließ. Natürlich lief das auf keinem Dancefloor, in keinem Club – dafür gab es ja die Beatles. Und dennoch hat Delia Derbyshire so eine Art White Album der Technogeschichte produziert. Nur ohne Album und ohne Techno.
Dass Techno irgendwann entstand, liegt aber auch an ihr. Delia zeigte, wie man aus Maschinen Gefühle holt, wie man Kälte mit Leben füllt. Platte Sätze heute. Aber damals? The Future!

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