Bittere Einsichten, miese Aussichten: Das Krisenjahr 2020 im Rückblick

Bittere Einsichten, miese Aussichten: Das Krisenjahr 2020 im Rückblick

Features. 22. Dezember 2020 | / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Die Dancefloors standen über weite Strecken des Jahres still, die szeneinternen Debatten über mangelnde Verwertungsmöglichkeiten für Produzent*innen, strukturellen Rassismus, Misogynie und andere Übel aber keineswegs. Die COVID-19-Pandemie wirkte auch in der internationalen Dance-Music-Community als Brandbeschleuniger für die Feuer, die seit geraumer Zeit unter ihrer Oberfläche schwelten. Wir blicken auf ein Jahr der Stasis und bewegten Debatten zurück – und fragen uns, wie es 2021 weitergehen soll.

Für einige wenige Wochen Anfang des Jahres schienen die Dinge noch so normal, wie sie das unter den Zeichen der laufenden ökologischen und politischen Krisen überhaupt konnten: In Australien brannte der Busch, am persischen Golf drohte ein Krieg auszubrechen, Großbritannien stieg aus der EU aus, in Yemen verschärfte sich der Bürgerkrieg. Soweit der Januar.

Getanzt wurde dennoch, fast überall auf der Welt. Doch schon Ende desselben Monats schlug die World Health Organization die Alarmglocken wegen eines Virus, das wenige Monate zuvor in China entdeckt wurde und sich in Windeseile über die ganze Welt ausbreitete. In Europa zeigte sich bald, dass die Gesundheitssysteme nicht auf den Pandemiefall vorbereitet waren und unter seiner Last kollabierten. Die Reaktion? Drastisch: Lockdowns, Kontaktbeschränkungen, Clubschließungen.

Von gefühlt einer Woche auf die nächste wurde die internationale Dance-Szene in einen rasenden Stillstand versetzt. Nachdem sich in beispielsweise Berlin zeigte, dass Clubs den idealen Nährboden für sogenannte Superspreading-Events boten, schlossen einige von ihnen freiwillig die Türen, noch bevor die Behörden zum selben Schluss kamen. Seitdem ist neben ein bisschen vereinzeltem Mindestbetrieb während der Sommermonate wenig passiert und eine Welle später steht die gesamte Clubwelt nun noch einen Schritt näher am Abgrund als zuvor. 94 % aller deutschen Clubs stünden nach einer Umfrage der DEHOGA vor dem Aus.

Auf unbestimmte Zeit werden sie deshalb peu à peu durch bundesweite Finanzpakete oder von den Ländern verordneten Hilfen von Monat zu Monat oder einem Quartal ins nächste herüber gerettet. Wobei eine deutliche Schere zwischen der Rave-Hauptstadt Berlin und dem Rest der Republik aufklafft, da so mancher kleine Club nicht mit ähnlicher Energie durch die Pandemie gerettet wird wie die großen Cash Cows. Wer was bekommt, liegt eben auch in der wirtschaftlichen Rentabilität einzelner Institutionen begründet.

Selbst nach der Krise – wann auch immer das sein soll – könnten sich diese Ungerechtigkeiten noch weiter verschärfen, würden lediglich die Vor-Corona-Zeit-Gewinner unbeschadet aus dieser hervorgehen. Immer wieder geäußerte Hoffnungen, dass die Pandemie eine – nebenbei gesagt auch ökologisch verträglichere – Rückkehr zum Lokalen und zum Underground anstoßen würde, haben sich nämlich weitgehend als vergeblich erwiesen. Schnell begannen während des eingeschränkten Sommerbetriebs diejenigen Clubs, die aller Voraussicht nach sowieso die Krise überstehen dürften, wieder ein internationales Booking an den Start zu bringen, um sich der regionalen Konkurrenz gegenüber einen Vorteil zu verschaffen.

Obwohl sich die Gesamtheit der Clubs gegenwärtig mit denselben Auflagen konfrontiert sieht, starteten einige unter anderen Vorzeichen. Glücklich durften sich all jene schätzen, die über einen Außenbereich verfügten, um so Open-Air-Veranstaltungen hosten zu können, oder aber einen Barbetrieb aufnehmen konnten. Viele waren das allerdings nicht.

Nur sehr wenige Clubs müssen keine Mietkosten abstottern und dürften es womöglich schaffen, aus alternativen Einnahmequellen – im Falle des Berghains dank einer aufsehenerregenden Kunstausstellung – zumindest einen guten Teil der Fixkosten zu decken. Andere können darauf vertrauen, dass ihren Vermieter*innen daran liegt, sie zu erhalten: Die Griessmuehle war noch im Januar und Februar das ultimative Symbol der Clubverdrängung aus der Berliner Innenstadt, fand sich jedoch nur wenige Monate später auf einem Grundstück wieder, mit dem ein Investor große Pläne hat – ein Club mit internationalem Booking ist da fest mit eingerechnet.

So also könnten die großen Fische im kleinen Teich überwintern, während um sie herum alle anderen langsam mit dem Bauch aufwärts an die Oberfläche treiben. Was das für Folgen für die Angestellten der Clubszene, für freischaffende Mitglieder der Community wie DJs oder natürlich die Besucher*innen haben dürfte, sollte offensichtlich sein.

Und von den sich noch in der Entwicklung befindlichen oder gerade erst in der globalen Aufmerksamkeit angekommenen Szenen außerhalb der nordamerikanischen und europäischen Sphäre ist da kaum einmal die Rede. Denn die Schicksale so mancher aufblühender regionaler Szenen werden nach wie vor ignoriert und ihre Macher*innen haben keinen Zugang zu den Informations- und Distributionskanälen des Globalen Nordens.

Obwohl auf dem afrikanischen Kontinent und in Ost- und Südostasien einige Länder mit großem Erfolg gegen die Pandemie vorgingen und so den Neustart der Clubszenen in beispielsweise China und Südafrika ermöglichten, sieht es anderswo nicht ganz so gut aus. Weil die Clubkultur in vielen Ländern keinesfalls auf staatliche Unterstützung zurückgreifen kann, wie sie in Europa für selbstverständlich hingenommen wird, könnte so mancher innovativer Community in anderen Ecken dieser Welt in einem Schlag der komplette Garaus gemacht werden.

Plague Raves, Spendenbuttons, Charity-Compilations

Die existenzielle Krise betraf und betrifft allerdings bei weitem nicht nur die Clubs, sondern auch alle, die in der Szene ihren Lebensunterhalt verdienen. DJs waren weitgehend zur Untätigkeit verdammt, Booking-Agenturen schoben Termine herum und verdienten doch nichts dran, das Personal von Clubs ging entweder in Kurzarbeit oder musste auf die nächste Finanzspritze hoffen, wenn sie sich nicht schlagartig nach neuen Jobs umschauten.

Unter denen, die während des eingeschränkten Betriebs dranbleiben konnten, wurde der Konkurrenzdruck derweil umso höher. Als im Sommer unter regional variierenden, meist aber strengen Auflagen Open-Air-Konzepte umgesetzt werden durften, bedeutete das in der Regel, dass Clubs und Promoter*innen immerhin zehn bis zwanzig Prozent ihres sonstigen Umsatzes einfahren konnten und lokale DJs wieder hinter die Decks treten durften. Allerdings ebenso, dass andere ihnen schnell wieder die Show und damit auch die bitter nötigen Einnahmen stahlen.

Das war oftmals auch in epidemiologischer Hinsicht mehr als zweifelhaft. Als "plague raves" wurden die Massenveranstaltungen in Frankreich, Italien oder Tunesien bezeichnet, bei denen laut Videoaufnahmen, wie sie unter anderem der Twitter-Account @businessteshno dokumentierte, auf allen gebotenen virologischen Sachverstand geschissen wurde. Auf den Stages? DJs, die sowieso das eine obere Prozent der Szene darstellen – Marco Carola, Amelie Lens, Dixon und andere sollten genug auf dem Konto haben, um auch mal ein Jahr auszusetzen. Sie ließen es sich aber dennoch nicht nehmen, ein paar vermutlich hoch dotierte Jobs anzunehmen.

Besonders perfide wurde es, als Carl Cox und andere eine Spendenaktion für ihre Tourmanager*innen starteten: Anstatt ihre Angestellten selbst zu bezahlen, sollten das die Fans erledigen und bekamen im Gegenzug dafür DJ-Mixe zum Kauf angeboten, die zum Großteil aus der Musik anderer bestand. Geht’s noch? Die Coronakrise machte so überdeutlich, wie scharf das Gefälle zwischen den großen Player*innen und den eigentlichen Säulen dieser Szene eigentlich aussieht.

Selbst das Benefiz-Streaming für Clubs in der Krise, beispielweise das zusammen mit der Berliner Clubcommission initiierte United We Stream, war von einem Paradox geprägt: DJs spielten weitgehend fremde Musik auf Plattformen, von denen nicht alle einen Deal mit den üblichen – und sowieso nur schlecht als recht ausschüttenden – Verwertungsgesellschaften haben und die dementsprechend nichts an die Urheber*innen abgaben, während die Clubs zumindest ein bisschen Unterstützung bekamen. Gerecht schien das keineswegs.

Immerhin Facebook schob den Livestreams teilweise den Riegel vor, Twitch regulierte die Möglichkeiten von DJs rigide – aber auch das brachte den Produzent*innen selbstverständlich herzlich wenig. Während die Diskussion um die Rettung der Clubs – nur eingeschränkt erfolgreich – sogar auf Bundesebene von der Politik diskutiert wurde und sich mit Booking United eine Initiative formierte, die für tourende Szenemitglieder lobbyierte, gab es neben einigen hitzigen Auseinandersetzung mit der Verwertungsgesellschaft GVL in diesem Krisenjahr kaum strukturelle Bemühungen für die Rechte und fairere Bezahlsysteme für die Menschen, deren Musik die Szene bewegt.

Was ankam, waren viele Tropfen, die auf heißen Steinen landeten und also rasend schnell verpufften: Ein Spotify-Spendenbutton, Supportmöglichkeiten über Soundcloud und selbst die umjubelten Bandcamp Fridays spülten zwar hier und dort etwas mehr in die Kassen von Musiker*innen. Doch wurde die Verantwortung somit auf die Konsument*innen umgelegt, während systemische Übel unangerührt blieben.

Mehr noch offenbarten sich die Streaming-Plattformen als Krisenprofiteur*innen. Nachdem die Union of Musicians im Oktober von Spotify forderte, die Pro-Stream-Ausschüttungen zu erhöhen – eine ehrbare, leider aber das eigentliche Problem verfehlende Forderung –, konterte das Tech-Unternehmen mit einer Idee, die an Zynismus kaum zu überbieten sein dürfte: Wer auf einen Teil der Einnahmen aus Streams verzichtet, kann vom Algorithmus der Plattform in Zukunft eine Sonderbehandlung erwarten, wenngleich auch nicht mehr. Weniger Einnahmen für ein bisschen mehr Sichtbarkeit und im Glücksfall ein paar Groschen mehr – schöne neue Streaming-Welt!

Doch zeigten sich sowohl die Plattformen als auch die Musiker*innen innovativ: Mixcloud intensivierte seine Bemühungen als DJ-freundliche Plattform, die auch an die Urheber*innen denkt, und brachte im April Mixcloud LIVE an den Start – “100 % legales Livestreaming”, wie es von Unternehmensseite hieß. Im Oktober zog die Plattform mit einem System für Live-Konzerte von Performer*innen nach, nachdem Bandcamp kurz zuvor ein ähnliches Pilotprojekt gestartet hatte. Dass sich darüber hinaus auch Boiler Room in Kollaboration mit Apple Music darum kümmerte, eine Auswahl seiner Sets auf legalem Wege online zu bringen und so zumindest ein bisschen mehr Wertschöpfungsmöglichkeiten für die Produzent*innen der von den DJs gespielten Musik ermöglichte, war ebenfalls ein mehr als positives Zeichen.

Allein änderte es nichts an der Tatsache, dass die Rechte von Musiker*innen weiterhin mit Füßen getreten werden und ein großflächiges Umdenken notwendig ist, um ihnen durch die Krise und darüber hinaus für ihre Arbeit gerecht zu entlohnen. Denn die Arbeit machten sich einige von ihnen, und nicht zu knapp. Zu den schmerzhaften Grundwidersprüchen dieser vergangenen Monate gehörte auch, dass viele prekär lebende Produzent*innen sich für Benefiz-Compilations zusammentaten, die hier mal den Opfern der Explosion in Beirut und ihren Konsequenzen finanzielle Hilfe zukommen lassen, dort die Proteste in Belarus unterstützen oder die Black-Lives-Matter-Bewegung stärken sollten.

Menschen, die sowieso kaum Geld verdienen, leiten ihre potenziellen Einnahmen an andere weiter, die es noch dringender nötig haben: Das ist zugleich ein rührender Beweis für die Solidarität der internationalen Community und doch ein Armutszeugnis für die Welt, in der wir leben.

Rassismus, Ausbeutung, Gummiboot-Raves

Die strukturellen Ungerechtigkeiten innerhalb dieser Community zeigten sich in der Krise deutlicher als zuvor. Im Mai wurde eine Fundraiser-Aktion für die House-Legende Adonis gestartet, weil dieser von seinem bahnbrechenden Hit “No Way Back” von seinem Label niemals einen Cent gesehen haben soll. Nur wenig später wurde eben dieses Label, TRAX Records, von Larry Heard und Robert Owens verklagt – Gründer Larry Sherman erlebte dies nicht mehr, da er im April verstarb. Beide Fälle bewiesen, wie tief verwurzelt die Ausbeutung Schwarzer Communitys in der Szene ist, deren Genese sie maßgeblich vorangetrieben haben.

Es blieben nicht die einzigen Stimmen zu diesem Thema. Im Juni gab Kevin Saunderson ein viel diskutiertes Interview, in dem er unter anderem zu Protokoll gab, er fühle sich, als “würde jemand Schwarze Künstler*innen und Produzent*innen daran hindern, Teil der Szene zu sein”. Dazu gesellte sich Marshall Jefferson, der in einem autobiografischen Text mit dem Titel ‘Why I Quit DJing’ mit einer Community abrechnet, die Schwarze Musik für ihre Zwecke nutzt, ihre Urheber*innen aber nach und nach aus ihr verdrängt.

Die Coronakrise bewies eben auch, dass die Dance-Industrie eine strikte Trickle-Up-Ökonomie ist: Unten wird geschuftet, oben kassiert. Auch das hat nicht allein eine offensichtlich rassistische Komponente, sondern gilt perspektivisch gesprochen für das Verhältnis zwischen den reicheren Regionen dieser Welt und ihren vermeintlichen Peripherien: Dass sich die US-Amerikanerin Megan Ryte mit ihren Feature-Gästen ASAP Ferg und will.i.am in ihrem Track “Culture” ausgerechnet mit kultureller Aneignung auseinandersetzte, obwohl das Stück schamlos einen Tune des südafrikanischen Gqom-Pioniers DJ Lag plagiierte, setzte der gesamten Diskussion kurz vor Jahresabschluss noch die Krone auf.

Wobei diese Diskussion eben auch maßgeblich von Institutionen mitgeprägt wurde, die selbst so ihre internen Problemchen hegen. Der britische Produzent R.O.S.H. kritisierte in zwei offenen Briefen die Redaktion des Ticketing-Portals Resident Advisor für die strukturelle Vernachlässigung von Schwarzen Subkulturen, Galcher Lustwerk erzählte auf Twitter eine Anekdote nach der anderen darüber, wie ihm als tourender Schwarzer Künstler in Clubs und von Promoter*innen mit Rassismus begegnet wurde.

Dazu gesellten sich zahlreiche Vorwürfe der Diskriminierung bei Native Instruments, dem nunmehr geschlossenen Amsterdamer Club De School, der mittlerweile ebenfalls nicht mehr existenten Booking-Agentur Odd Fantastic, dem Berliner Club Salon zur Wilden Renate und dem Label R&S. Viele verstreute Einzelfälle? Von wegen. Spätestens in einem von Black Lives Matter geprägtem Jahr wurde deutlich, dass die internationale Dance-Szene von strukturellem Rassismus durchwoben ist, der sich eben nicht nur in einem blöden Sprüchlein hier und einem unsensiblen DJ-Namen dort ausdrückt, sondern auf der systematischen Ausbeutung und Ausgrenzung Schwarzer Personen und People of Colour fußt.

Wie aber wurde auf all diese Enthüllungen und Anschuldigungen reagiert? Ziemlich verhalten und manchmal komplett geschmacklos. Ein als Demonstration angemeldeter Gummiboot-Rave, der Anfang Juni in Berlin offenbarte, dass der Hedonismus von Teilen der lokalen Szene über die Solidarität mit einer gleichzeitig stattfindenden Black-Lives-Matter-Demonstration wichtiger war, einige Namensänderungen – aus The Black Madonna wurde The Blessed Madonna, David Lee trug sein Joey-Negro-Alias zu Grabe und zuletzt benannten sich Detroit Swindle in Dam Swindle um – sowie ein paar schwarze Quadrate zum #BlackOutTuesday kamen allerhöchstens dabei rum.

Die Schwarze Community innerhalb der Dance-Szene setzte hingegen zunehmend auf Selbstorganisation. Der Blog des US-Festivals Dweller wurde zu einem der wichtigsten Diskursmedien der vergangenen Monate und mit Black Bandcamp verschrieb sich eine ganze Plattform sogar dem Kampf gegen die systematische Vernachlässigung Schwarzer Künstler*innen durch die mediale Berichterstattung wie auch ihrer mangelnden Vergütung. Es gründeten sich viele solcher kleiner und innovativer Initiativen, die dringend unterstützt werden sollten – und zwar von allen Seiten.

Sexuelle Übergriffe, sexualisierte Gewalt, sexistische Kommentare

Ähnliches lässt sich auch im Kampf gegen den allgegenwärtigen Sexismus innerhalb der globalen Szene sagen. Im Januar und Februar wurden gleich drei Fälle bekannt, bei denen auf den Festivals Monis Rache im Jahr 2016 und 2018 und auf der Fusion im Jahr 2019 auf Dixi-Klos Kameras installiert worden waren, um damit Besucher*innen zu filmen. Dass zum Weltfrauenkampftag am 8. März die durch das Netzwerk female:pressure erstellte FACTS-Studie transparent machte, dass bei rund 400 verschiedenen untersuchten Events im Jahr 2019 die Frauenquote in den Line-Ups bei gerade einmal 25 % lag, schmeckte da umso bitterer, obwohl dies im Vergleich zum Untersuchungsjahr 2012 immerhin mehr als doppelt so viel ist.

Wobei damit eben noch nicht erhoben wäre, wie viele dieser 25 % tatsächlich auch mal einen Headline-Slot und die entsprechende Vergütung – die Gender Pay Gap existiert eben auch in der Szene für elektronische Musik – erhielten und ob es sich dabei nicht vielleicht um fast immer dieselben weiblichen Star-DJs und Musiker*innen handelte. Wenn nur einige wenige Frauen regelmäßig auf den Festival-Bühnen dieser Welt auflegen, heißt das eben noch lange nicht, dass damit Gerechtigkeit erreicht wäre. Vielmehr bedeutet es, dass eine strukturell ausgegrenzte und vernachlässigte Gruppe sich intern in eine Elite und den Bodensatz aufsplittet. Der Weisheit letzter Schluss kann das unmöglich sein.

Dazu gesellten sich die zahlreichen, in einem im Spätsommer von Annabel Ross erstellten Dossier des Mixmag gesammelten Anschuldigungen gegen Erick Morillo. Der hatte sich am 1. September das Leben genommen – drei Tage vor seinem Gerichtstermin, bei dem er sich einem Vergewaltigungsvorwurf stellen sollte, dessen Legitimität durch DNS-Spuren bei einem sogenannten Rape-Kit-Test unterstrichen worden war.

Morillo war nicht die einzige international bekannte Szenefigur, gegen die in diesem Jahr Vorwürfe der sexuellen Übergriffigkeit und sexualisierter Gewalt erhoben wurden. Nachdem der Journalist und Ko-Komponist von “Strings of Life”, Michael James, auf seiner privaten Facebook-Seite bereits in mehreren Postings Derrick May beschuldigte, sich an diversen Frauen vergangen zu haben, veröffentlichten das DJ Mag und Resident Advisor an zwei aufeinanderfolgenden Tagen mehrere, sich zum Teil überschneidende Berichte von Frauen, die May zusätzlich belasteten. Es werden aller Voraussicht nach nicht die letzten Vorwürfe dieser Art gewesen sein und die Dunkelziffer wird deutlich höher ausfallen.

Auch im Falle von Genderungerechtigkeit und strukturellem Sexismus müssen deshalb dringend flächendeckende Lösungen her, wie sie die Association for Electronic Music im November dieses Jahres in Form eines Verhaltenskodexes für die Branche anstoßen wollte. Schon die britische DJ und Produzentin Rebekah hatte mit dem Start ihrer #ForTheMusic-Kampagne zwei Monate zuvor ähnliches gefordert und musste sich nach eigener Aussage deshalb abwertende Kommentare anhören. Ein Backlash gegen die Wortführerin einer Kampagne, die sich gegen Sexismus engagiert: So tief muss eine Szene erst einmal sinken. Sie wird nun über ein paar individuelle Exempel hinaus ihren Umgang mit den weiblichen wie auch nicht-binären und auch queeren Mitgliedern gründlich überdenken müssen. Auch weil gerade die im Zentrum polizeilicher Repressionen standen, wie sich in Berlin gleich mehrmals zeigte.

Kommt der große Reset? Und was dann?

Clubsterben, finanzielle Ungerechtigkeiten, institutionalisierter Rassismus und struktureller Sexismus: Die Coronakrise wirkte im rasenden Stillstand der internationalen Dance-Community als Brandbeschleuniger für eine Reihe von Feuern, die schon sehr lange unter ihrer Friede-Freude-Eierkuchen-Oberfläche schwelten. Paradox ist nun, dass diese Community sich gleichzeitig einer existenziellen Bedrohung ausgesetzt sieht, wie ihre Rundumerneuerung größerer systemischer Kraftanstrengungen bedarf. Die Frage lautet also nicht nur, ob der große Reset kommt, sondern ob er überhaupt möglich sein wird. Und was uns alle danach erwartet.

Wenn es einen Neustart geben soll, dann sollten dessen Konditionen in jedem Fall in der Rechnung berücksichtigt werden. Während beispielsweise in China nach der erfolgreichen Eindämmung der Pandemie durch drakonische, aber zweifelsfrei effektive Maßnahmen die Clubszene von Alkoholmarken flankiert wieder aufsteht, muss sich diejenige in Europa und Nordamerika nun Gedanken darum machen, ob andere finanzielle Sicherheiten und allgemeine Infrastrukturen möglich und wünschenswert sind. Wie sieht der Club der Zukunft aus, wer spielt dort, wer darf rein? Wo kommt das Geld dafür her und wer bekommt wieviel davon ab? Wie gehen wir mit den benachteiligten Mitgliedern der Szene um, wie mit denen, die das friedliche Miteinander stören? Wie kann ein internationaler Austausch pandemie- und umweltgerecht durchgesetzt werden?

Es stellen sich Fragen über Fragen. Immerhin: Sie stehen transparenter und dringlicher im Raum denn je zuvor. Sie zu diskutieren und aus Worten schließlich Handlungen erwachsen zu lassen, wird sich also nicht vermeiden lassen. Obwohl also der herbeigesehnte Jahreswechsel ansteht und die Zulassungen der ersten Impfstoffe Hoffnung für einen baldigen flächendeckenden Neustart machen: Ausgestanden wäre damit noch gar nichts.

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