Jahresrückblick 2022: Weltuntergang und Eskapismus

Jahresrückblick 2022: Weltuntergang und Eskapismus

Features. 1. Dezember 2022 | 4,3 / 5,0

Geschrieben von:
Kristoffer Cornils

Eigentlich sollte es im März dieses Jahres endlich wieder losgehen, und zwar buchstäblich ohne Einschränkungen. Schon davor jedoch kam es dicke und brach in der Folge umso mehr die Hölle los. Das Jahr 2022 markierte aber nicht bloß einen verkorksten Neuanfang für eine Szene, die ihre Aufbruchstimmung in Nostalgie ummünzte. In diesem – wieder einmal – verkorksten Jahr manifestierten sich die Krisen, deren Auswirkungen sie noch lange beschäftigen werden.

Nein, das Berghain schließt nicht am 31. Dezember. Doch als im Oktober ein mehr als zweifelhafter Facebook-Post des vormaligen Chefredakteurs der Frontpage, Jürgen Laarmann, vom Magazin Faze und in der Folge überregionalen sowie sogar internationalen Medien aufgegriffen wurde, war die Aufregung groß: Ende 2022 würde der Club die Pforten zusperren, hieß es darin. Das Ganze stellte sich als kolossale Ente heraus und warf obendrein die Frage auf, ob die daran beteiligten Journalist:innen für ein paar Klicks die Grundlagen ihres Handwerks komplett über Bord geworfen hatten. 

Zwar hatte die Nachricht der Schließung der hauseigenen Booking-Agentur zum Jahresende schon den Gedanken aufkommen lassen, dass das Schicksal des schon länger brach liegenden Labels Ostgut Ton ebenfalls besiegelt schien und also irgendwie irgendetwas am Wriezener Bahnhof im Unreinen sein musste. Für ein Ende des Clubs aber gab es keine Indizien und erst recht keine Beweise. In der auf das bewusst gestreute Gerücht folgenden heillosen Aufregung offenbarte sich aber eine gewisse apokalyptische Grundstimmung innerhalb der Szene. Zwischen Hard-Trance-Tunes und hochgeschwinden Pop-Edits schimmerte die Angst auf, dass uns alles bald entgleiten könnte.

Berghain zu? Nee, aber Klicks hat's gebracht!

Woher diese Angst rührt, liegt auf der Hand, zeigte sich doch in recht unmittelbarer Nachbarschaft, wie schnell der Alltag einer Gesellschaft auf den Kopf gestellt werden kann. Noch bevor die Clubs in Deutschland am 4. März wieder öffnen konnten, begann am 24. Februar die russische Invasion der Ukraine. Sie schlug in Zentraleuropa hohe Wellen und die Konsequenzen waren in der Techno-Szene zu spüren, ist Kyiv doch seit langem und – laxer Regularien sei Dank – vor allem seit Pandemiezeiten ein beliebtes Reiseziel des Rave-Easyjetsets. Die Solidarität war groß und äußerte sich in einer unüberschaubaren Menge von Charity-Compilations und Benefiz-Partys – genauso jedoch in scharfen Grenzziehungen. 

Derweil sich einige russische und belarussische Künstler:innen und Bands wie Pavel Milyakov alias Buttechno oder Molchat Doma explizit vom Angriffskrieg distanzierten und ihre Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung aussprachen, genügte einigen die Positionierung von Nina Kraviz nicht und so wurden stellenweise sogar ihre Auftritte abgesagt. Der Vertrieb Clone stellte sogar die Zusammenarbeit mit ihrem Label Trip ein. Zahlreiche andere DJs, darunter vor allem Nastia, sagten derweil ihre Auftritte bei Festivals ab, an denen russische Unternehmen oder Künstler:innen beteiligt waren, die sich nicht eindeutig gegen den Invasionskrieg positioniert hatten.

Die Grenzen zwischen Oben und Unten

Es taten sich entlang politischer Haltungen und sozialer Einstellungen scharfe Trennlinien auf. Tatsächlich war auch der herbeigesehnte Neustart hierzulande auf mehreren Ebenen kein egalitärer. Sowohl die Studie FACTS von female:pressure als auch eine später veröffentlichte, mit anderen Methoden und einem erweiterten Fokus durchgeführte Untersuchung der MaLisa Stiftung kamen zu ähnlichen Ergebnissen: Frauen und nicht-binäre Menschen sind in der Clubkultur und der breiteren Musiklandschaft weiterhin unterrepräsentiert.

Episoden wie die – von female:pressure in einem offenen Brief scharf kritisierte – Eröffnung des Techno-Museums MOMEM, Carl Craigs Vendetta gegen die Journalistin Annabel Ross sowie diverse Vorwürfe unterschiedlicher Brisanz gegen Guy Gerber, HKKPTR oder Asquith vermittelten ebenfalls das Bild einer Szene, in der auf struktureller wie auch auf individueller Ebene noch viel zu tun ist. Gewalttätige Attacken mit Todesfolgen auf drei Treffpunkte der queeren Szene in Oslo (London Pub), Bratislava (Tepláren) und Colorado Springs (Club Q) verdeutlichten derweil, dass queere Menschen selbst in sogenannten Safer Spaces nicht vor Angriffen von außen sicher sind.

Toxische Arbeitsbedingungen bei Beatport...

Verschiedene Formen von Diskriminierung und Verfehlungen thematisierte Annabel Ross ebenso in einem Text über das Verhalten hochrangiger Beatport-Mitarbeiter und CEO Robb McDaniels. Um Arbeitsbedingungen ging es vorrangig auch in der Klage Raj Chaudhuri gegen das Label R&S und dessen Betreiber Renaat Vandepapeliere, doch spielten auch in diese Vorwürfe Rassismus und Sexismus rein. Chaudhuri scheiterte unter anderem deswegen, weil wichtige Zeug:innen dem Prozess fernblieben. Im selben Zug wurde offenbart, dass sein ehemaliger Arbeitgeber der Presse und einigen Einzelpersonen aus der Musikszene mit rechtlichen Schritten gedroht hatte, sollten sie sich weiter öffentlich zu den Anschuldigungen äußern. Von Business hin zu Legal Techno ist eben immer nur ein kleiner Schritt.

Dass die Grenzen in der Szene nicht nur zwischen Männern und allen anderen Gendern, oben und unten, sondern genauso zwischen West und Rest verliefen, das offenbarte eine im Rahmen des Festivals Unsound vom Kollektiv Oramics vorgelegte Studie zur Repräsentation osteuropäischer DJs in den Podcasts von englischsprachigen Online-Magazinen wie Resident Advisor, Crack und FACT: Ein Anteil von weniger als 6 Prozent von DJs aus dem osteuropäischen Raum scheint allemal angesichts des seit Beginn des Ukrainekriegs gesteigerten Bewusstseins für die Vernachlässigung dieser Region sehr wenig. Initiativen wie das Gravity Network – ein Austauschprogramm zwischen Clubs in Berlin (RSO), Warschau (Jasna 1) und Prag (Ankali) – sind in der Hinsicht extrem zu begrüßen.

Vergleichsstudien mit Schwerpunkt Südamerika, Afrika oder Vorderasien dürften allerdings noch ernüchternder ausfallen – und zwar in der gesamten westlichen Musikpresse.

Querdenken, Affenpocken und Needle-Spiking

Dass die Losung "Friede, Freude, Eierkuchen" also nicht überall in der Welt oder auch nur allen Ecken der Szene ihre Gültigkeit hat, das bewies im Juli auch die Neuauflage der Berliner Parade, auf der diese Parole dereinst skandiert wurde: Die Wiederkehr der Loveparade unter dem Namen Rave the Planet wurde davon überschattet, dass Veranstalter und Sprachrohr Dr. Motte einen Aufkleber der Freedom Parade hochhielt – eine mit der Querdenken-Bewegung assoziierte Organisation, die von Captain Future geleitet wird. Der wiederum war erst einen Monat zuvor in die Schlagzeilen geraten, weil er für eine Veranstaltung im Fetisch-Club KitKat gebucht war und ihm wie auch der Freedom Parade als solcher aber rechtsextreme Tendenzen sowie antisemitische Ansichten vorgeworfen werden. 

Nach Kritik an seiner Person entschuldigte sich Dr. Motte und dementierte jede Verbindung zur Freedom Parade, deren Anführer er wenige Tage zuvor noch auf seiner eigenen Parade freundlich, um nicht zu sagen freundschaftlich gegrüßt hatte. Im Krisenmanagement ist er ja geübt. Ob der Aufruf an jüdische Menschen "doch mal eine neue Platte auf[zu]legen", seine Kritik an der "schwulen Politik" des Berliner Bürgermeisters Klaus Wowereit oder ein, na ja, Hitlergruß auf der Kastanienallee: honi soit qui mal y pense, zumindest der eigens dafür eingerichteten Seite seiner Website zufolge.

Die Debatte um Querdenken in der Techno-Szene erinnerte vielleicht einige daran, dass eine für beendet erklärte Pandemie noch lange nicht vorüber ist. Über 4.000 Menschen starben etwa allein im Monat Oktober im Zusammenhang mit COVID-19, das heißt jeden Tag eine Flugzeugladung von Menschen. Ethische Bedenken über die Nacht im Club während der verschiedenen Wellen des Jahres 2022 schien ein großer Teil der Szene jedoch nicht mehr zu haben. Wieso auch: Die in Aussicht gestellten, föderal entschiedenen Einschränkungen des Clubbetriebs in den Herbst- und Wintermonaten erfolgten bis Jahresende nicht. Corona darf kursieren wie ein zusammengerolltes Nahverkehrsticket auf der Afterhour. Innerhalb der Szene wurde das nicht einmal mehr thematisiert.

Da ist es wohl als Glück in mehrfacher Hinsicht anzusehen, dass sich die ab Mai dieses Jahres ausbreitenden, mittlerweile zu Mpox umgebrandeten Affenpocken aller Befürchtungen zum Trotz weltweit bisher kaum verbreitet haben und nur wenige Todesfälle zu verzeichnen waren. Zu einer zweiten Pandemie wird es zumindest in diesem Jahr nicht mehr kommen. 

2022: große Angst vor Needle-Spiking

Doch wurde die Clublandschaft im deutschen Raum nach den Wiedereröffnungen von einer Epidemie heimgesucht: Angst breitete sich ab April und Mai rapide aus. Nachdem seit Herbst 2021 in Großbritannien immer wieder Fälle des sogenannten Needle-Spikings gemeldet wurden, häuften sie sich auch in Berlin und anderen deutschen Städten sowie im europäischen Ausland. "Viele Befürchtungen, wenige Gewissheiten" titelte DJ-LAB-Autorin Nikta Vahid-Moghtada in einer Recherche zum Thema für das Magazin Groove. Tatsächlich gab es kaum konkrete Beweise für die Theorie, der zufolge Täter:innen den Betroffenen auf dem Dancefloor per Nadel Drogen injizierten, auch wurden diese Versuche nur selten polizeilich gemeldet.

Die Berichte über vermeintliche Needle-Spiking-Vorfälle ebbten ab Mitte des Jahres kontinuierlich ab. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich in einigen Fällen um reguläre Spiking-Vorfälle – über die ebenso dringend und noch langfristiger diskutiert werden sollte – handelte, während in anderen die Raver:innen körperlich und geistig nicht mit der neuen Realität des Cluballtags zurechtkamen. 

Überhaupt scheint eine Vertiefung der Diskussion um geistige Gesundheit im Jahr 2022 angebrachter denn je. Zwar meldete nur Monika Kruse mit ungeschönten Worten eine Pause vom Tourleben an, um sich auf ihr psychisches Wohlbefinden zu konzentrieren, doch dürften viele der Mitglieder aus allen Bereichen der Szene sowie die Fans selbst lange nicht mehr so sorgenfrei in den Club gehen wie noch in Vorpandemiezeiten. Denn die politischen, ökologischen und wirtschaftlichen Krisen des Jahres 2022 lasten schwer.

Die Klimakrise von heute und das Clubsterben von morgen

Derweil sich nach einem Rekordhitzesommer mit Wassermangel und Flutkatastrophen – insbesondere eine Klimakrise ist nicht widerspruchsfrei – und Open-Air-Temperaturen Ende Oktober halb Deutschland den Mund über ein paar auf den Asphalt geklebte Menschen fusselig redete, gaben sehr viele andere Menschen beim COP 27 in Sharm el-Sheikh noch mehr CO2 in Form von heißer Luft von sich. 

Innerhalb der Szene versucht die Initiative Clubtopia etwas zu bewegen und stellte im Frühjahr unter dem Titel 'Zukunft Feiern' einen Code of Conduct für den nachhaltigen Clubbetrieb vor, dem sich seitdem eine Vielzahl von Clubs in deutschen Großstädten verpflichtet haben. Doch ist der Traum vom grünen Raven nicht umso utopischer in Zeiten der wirtschaftlichen Prekarisierung? Denn Nachhaltigkeit kostet Geld. Geld, das im Jahr 2022 immer wertloser wurde und an dem es in vielen Ecken der Clublandschaft zunehmend mangelte.

Wie sich lokale und globale Geschehnisse und vor allem Politik auf Kultur auswirken, dafür ließen sich in diesem Jahr viele Beispiele finden. Dass bei konservativen beziehungsweise in diesem Fall rechtsextremen Regierungen Kultur insgesamt und die Clubszene im Speziellen einen schweren Stand haben, zeigte sich in Italien nur kurze Zeit nach dem Wahlsieg Giorgia Melonis und ihrer Partei Fratelli d'Italia: Unangemeldete Raves würden stärker als zuvor geahndet, hieß es zuerst, nur wenig später erfolgen die ersten konkreten Repressionen gegen illegale Partys. Razzien in Offenbach (Robert Johnson), Regensburg (Schimmerlos) und Berlin (Loophole) deuteten derweil an, dass sich auch hierzulande die Situation verschärfen könnte.

Mehr noch zeigte sich in Großbritannien, wie die Konsequenzen des Brexits für Clubs genauso wie Versandhändler, Labels und nicht zuletzt tourende Künstler:innen das Leben erschwerten und sich obendrein mit einer allgemeinen Lebenshaltungskostenkrise verbanden, die wiederum auf ein historisch unvergleichliches Versagen auf politischer Ebene zurückzuführen ist. Die dortige Musikszene scheint insgesamt still zu kollabieren. Die Änderungen in Handel und Zoll, Reiseauflagen und so weiter übten sich genauso aber auch auf die Musikszene anderer Länder aus: Platten aus dem UK ordern oder dort auf Tour gehen etwa ist schwieriger und kostspieliger denn je. Langfristig könnte das Land zunehmend kulturell isoliert werden.

Clubtopias "Code of Conduct".

In Zentraleuropa beziehungsweise fast überall in der Welt waren ebenso die Auswirkungen des Ukrainekriegs und den vielgestaltigen Sanktionen gegen Russland zu spüren – insbesondere während der Festival-Saison und während des laufenden Clubbetriebs. Für die bereits im Vorjahr in Gang gekommene Inflation wirkte die Invasion als Brandbeschleuniger, auch dank der dadurch eingeleiteten Energiekrise. Publikum wie Clubs sehen sich somit gleichermaßen mit höheren Lebenshaltungs- beziehungsweise laufenden Kosten konfrontiert. Für die einen heißt es: Mehr Geld ausgeben, um weniger auszugehen. Für die anderen: Weniger einnehmen und mehr dafür ausgeben. Zusammengenommen ergibt sich ein Teufelskreis.

In Verbindung mit erhöhtem Personal- und Materialmangel und den dementsprechenden Kostenerhöhungen – das kleine Einmaleins des Kapitalismus: je größer die Nachfrage, desto höher die Preise – entstand eine vor allem für Festivals brisante Gemengelage. Zwei Jahre lang konnten sie keine Einnahmen verzeichnen und nur in Einzelfällen und nicht immer im kostendeckenden Umfang staatliche Förderungen für sich beanspruchen. Die Konsequenzen offenbarten sich auf verschiedene Arten: Bereits im Februar 2022 meldete das von einer deutschen Crew organisierte französische Monticule Insolvenz an, die Fusion meldete nach einer ausverkauften Ausgabe ein Minus von 1,5 bis 2 Millionen Euro – mit den Ticketverkäufen aus dem Jahr 2020 ließen sich Kosten von 2022 eben nicht mehr berappen.

Die Clublandschaft Deutschlands bekam allerdings Nachwuchs: Unter anderem wurden in Leipzig (Areal Orbis), Berlin (Marktlokal Klub), Mönchengladbach (UG2) und Dortmund (Stollen134) neue Veranstaltungsorte eröffnet. Von einem Clubsterben, wie sie eine interaktive Karte am Beispiel Berlin visualisierte, das eine Studie mit einem Wegbruch von 20 Prozent in Großbritannien bezifferte und für den sich mit der baldigen Schließung des Superclubs Printworks in London ein schlagkräftiges Symbol fand, konnte also keine Rede sein. Oder? 

Vielleicht nicht. Noch nicht. In Berlin soll das RAW-Gelände planiert werden, spruchreif ist allerdings noch nichts, und auch die Hamburger MS Stubnitz blickt in eine ungewisse Zukunft. Ob oder unter welchen Bedingungen der Dresdner Sektor Evolution aus der buchstäblichen Asche wiederauferstehen wird, ist derzeit ebenfalls unklar. Lediglich das Schicksal der Düsseldorfer Institution Golzheim scheint leider besiegelt. Ist das nicht eigentlich eine erträgliche Quote?

Jein. Laut einer Auswertung der Clubcommission Berlin aus dem Sommer waren zu diesem Zeitpunkt nur etwa zehn bis 20 Prozent der dortigen Clubs im Normalbetrieb regelmäßig ausgelastet, den anderen mangelt es an Publikum. Das ist ein Problem, das auch der Live-Sektor kennt: Die Konzertbranche schlug genauso Alarm und viele Bands und Solo-Künstler:innen sagten ihre Tourneen ab. Neben erhöhten Kosten für die Produktion waren es auch gesunkene Vorverkäufe, die einen neuen Teufelskreis in Gang brachten. Mehr Geld für Tickets zu verlangen, würde Menschen in finanziell prekären Situationen wohl umso mehr vom Kauf abhalten. 

Eine ähnliche Planungssicherheitskrise erfasste natürlich auch die Clubs der Republik. Warum doch alles soweit noch gut gegangen ist? Vor allem dank Förderungen wie Neustart Kultur, die im nächsten Jahr allerdings auslaufen. Das Clubsterben, es könnte also im nächsten Jahr so richtig Fahrt aufnehmen. 

Lobbyverbände wie die Clubcommission oder der Verband Unabhängiger Musikunternehmer*innen (VUT) richten zwar flammende Appelle an die Politik, die allerdings setzt – verständlicherweise vielleicht – aktuell ganz andere Prioritäten. Wenn wegen massiv gesteigerten Energie- und Betriebskosten bald Millionen von Menschen hierzulande nur mehr schlecht als recht noch ihre Fixkosten und Mieten bezahlen können, wiegen die Probleme der Kulturbranche eben wenig. 

Dass die Stadt Berlin allerdings für einen von der Penske Media Group und dem Axel fucking Springer Verlag ausgerichteten SXSW-Klon in Berlin 3,5 Millionen Euro locker machen will, schmeckt dann allerdings nach blankem Hohn.

Lieferschwierigkeiten und Preisanstiege: Vinyl und Tech am Limit

Nicht nur für Festivals und Clubs, sondern auch für Labels und Künstler:innen war es ein Krisenjahr, in dem sich bestehende Missstände verstärkten und sich unsichere Perspektiven eröffneten. Die extrem erhöhte Nachfrage macht den Presswerken weiterhin zu schaffen. Dass der Marktriese Pallas das zum Anlass einer Unternehmensvergrößerung nahm, wirkt erstmal positiv und dürfte der Underground-Szene indes kaum nützen. 

Der verpflichtet sich mit Matter of Fact seit dem Sommer immerhin ein neues Presswerk, das sich ausschließlich an unabhängige Kundschaft richtet und mit 30.000 Exemplaren pro Monat einen soliden Output verspricht. Alle der großen Vinylkrise zuträglichen Probleme wären damit aber keineswegs gelöst. Denn weder wären damit Materialknappheit und gestörte Lieferketten behoben noch die damit einhergehenden Kosten gedrückt worden. Die werden stattdessen zwangsweise an die Konsument:innen weitergereicht. 

Die Preise für Gear stiegen teils stark an.

Es sind nicht die einzigen Mehrkosten, mit denen sich Musikwirtschaft und Fans konfrontiert sehen. Die Erhöhung der DHL-Versandkosten für Schallplatten wird insbesondere kleinen Versandhändlern und Labels ihre Positionierung auf dem internationalen Markt erschweren, dazu kommen nahezu tägliche Preisschwankungen beziehungsweise -erhöhungen für Rohstoffe wie PVC oder Papier, welche die Verkaufspreise für Vinyl erhöhen. Das stößt eine mittlerweile altbekannte Dynamik an: Immer weniger Menschen können sich überhaupt noch Platten leisten, die Umsätze gehen also zurück.

Derweil bei den mittlerweile beliebten Kassetten ähnliche Preisanstiege zu beobachten sind und lediglich CDs einigermaßen kostenstabil bleiben, zeigt sich die umfassende Gemengelage verschiedener Krisen auch bei ganz anderer Hardware. Einige kleinere Hersteller von Musik-Gear wie WMD machten dicht, immerhin Future Retro gelang eine gleichermaßen dramatische wie verwirrende Rückkehr vom angekündigten Aus

Sinnbildlich für die Komplexität und Unberechenbarkeit der Situation mögen wohl aber die haarsträubenden Preisfluktuationen im Hause Moog sein, deren Tendenz eine klar aufwärtsgerichtete ist. Für Hobby-Musiker:innen wie für Profis wird die Studioausrüstung in der Breite zu einem potenziell immer größeren Kostenpunkt. Was für Gelegenheitsmusiker:innen in erster Linie ärgerlich ist, das hat potenziell weitreichende Konsequenzen für all jene, die mit der Musik ihr Geld verdienen möchten. Egal, ob sie nun mit Hardware oder komplett 'in the box' produzieren, die Ausgaben steigen nämlich entweder jetzt oder perspektivisch überall, wenn auch die Preise für die Lizenzierung von Musikprogrammen angehoben werden.

Wer sind die Schuldigen – Labels? Streaming-Plattformen? Beide!

Dasselbe gilt auch für Konsument:innen: Amazon Prime und Apple erhöhten die Abo-Beiträge, Spotify wird aller Voraussicht nach im Jahr 2023 nachziehen. Gute Nachrichten für die Rechteinhaber:innen von Musik, die mehr Tantiemenzahlungen erwarten dürfen? Wohl kaum, werden die Anhebungen doch in erster Linie eine Anpassung an die Inflation darstellen – von der Erhöhung von Ausschüttungen war in keinem dieser Fälle zu irgendeinem Zeitpunkt die Rede. Und wenn alles teurer wird, die Ausschüttungen sich nicht angleichen, kommt unterm Strich real betrachtet weniger dabei herum.

Dazu passten dann leider die Ergebnisse einer GEMA-Studie im Spätsommer, die konkrete Zahlen zum Geschäft mit dem Streaming lieferte: Aus den Nettoeinnahmen aus einem Streaming-Abonnement gehen demzufolge nur 22,4 Prozent an "Musikschaffende", das heißt der Gesamtheit von Urheber:innen und Interpret:innen, und aber 30 Prozent an die Streaming-Plattformen selbst sowie satte 42 Prozent an Labels. 

Die Zahlen bedürfen allerdings einer kritischen Einordnung: Die GEMA besitzt seit dem Jahr 2019 die Mehrheitsanteile am Digitalvertrieb Zebralution und hat ein Interesse daran, unabhängigen Musiker:innen den digitalen Direktvertrieb schmackhaft zu machen, indem Labels als die eigentlichen Bösewichte inszeniert werden – eine Taktik übrigens, auf die auch die Betreiber von Streaming-Plattformen, allen voran Spotify, zurückgreifen.

Das soll nun allerdings wiederum nicht heißen, dass Labels sich ihren Künstler:innen gegenüber immer fair verhielten. Streitigkeiten wie zwischen Nene H und dem französischen Label Possession im Frühling gibt es überall in der Szene, nur werden sie selten dermaßen öffentlichkeitswirksam ausgetragen. In manchen Fällen haben solcherlei Zwiste sogar historische Tragweite. Tatsächlich wurde mit dem im August bekannt gegebenen gerichtlichen Sieg von Larry Heard und Robert Owens gegen ihr altes Label TRAX eine lange bestehende Ungerechtigkeit zumindest teilweise begradigt: Rückwirkende Zahlungen von Tantiemen sowie Schadensersatzleistungen in Millionenhöhe muss das Chicagoer House-Label an die beiden abdrücken. 

Larry Heard (l.) und Robert Owens setzen sich gerichtlich durch.

Der Beschluss diente einer ganzen anderen Riege von Künstlern wie Adonis oder Marshall Jefferson – der zugleich noch Kanye West wegen eines unlizenzierten Samples verklagte, wo er schon mal da war – als Präzedenzfall, um das einst von Larry Sherman gegründete und seit jeher für seine ausbeuterischen Praktiken bekannte Label ebenfalls wegen ausgebliebenen Tantiemenzahlungen oder sogar kategorisch unterschlagener Vergütung vor Gericht zu ziehen.

Der über die Szene hinaus aufsehenerregendste Rechtsstreit des Jahres spielte sich allerdings in Großbritannien zwischen Domino und Four Tet ab und wurde im Juni zugunsten des Produzenten entschieden. Das Label hatte Kieran Hebden für Veröffentlichungen aus der Zeit vor dem Streaming-Zeitalter sehr schmale Tantiemen – nur 18 Prozent der Einnahmen gingen an ihn – bezahlt und musste diese nicht nur nachzahlen, sondern wird in Zukunft auch 50 Prozent der Einkünfte mit ihm teilen

Obwohl die Gerichtsentscheidung keinen rechtlichen Präzedenzfall schafft, so kann sie immerhin in der juristischen Argumentation all jener herbeigezogen werden, denen auf Grundlage alter Verträge von ihren Plattenfirmen zu wenig Geld bezahlt wird. Und obendrein schärfte sie das Bewusstsein für die desolate Situation, in der sich selbst vergleichsweise große Musiker:innen wie Four Tet befinden: Plattformen wie auch Labels profitieren in diesen Sphären bisweilen am meisten vom Geschäft, die Artists haben das Nachsehen.

Alternative Streaming-Modelle und die drohende Rezession

Gegen die Streaming-Anbieter wie Marktführer Spotify haben unabhängige Künstler:innen jedoch keine Handhabe. Dass sich dort durch viele Proteste etwas ändert, ist mehr als unwahrscheinlich. Die sich zuspitzende Diskussion um die Wertschöpfungskrise im digitalen Raum resultierte in diesem Jahr allerdings in der Gründung einiger Alternativen zum Status quo. 

Mit dem Unternehmen Aslice brachte der DJ, Produzent und Labelbetreiber DVS1 im Frühjahr einen Service an den Markt, der auf das Gefälle zwischen den Einnahmen großer DJs und der Produzent:innen der Musik, die sie spielen, abzielte – beziehungsweise auf ein wenig Umverteilung. Den Kerngedanken des wahrlich nicht perfekten, mindestens aber vielversprechenden Systems griff auch die Videostreaming-Firma HÖR auf, die im Rahmen ihres neuen Abo-Angebots Gelder an die Produzent:innen der gespielten Musik ausschütten will.

Aslice versucht eigenständig die Verteilung von Geld in der Szene gerechter zu gestalten.

Im Streaming-Bereich selbst eröffneten sich ebenfalls weitere Alternativen zu den großen Playern. Im Web3-Bereich gesellte sich Tamago zu Audius und Co. und mit Marine Snow versprach ein weiteres Unternehmen, die Grundfeste der Streaming-Wirtschaft gänzlich neu zu denken: Statt pro einzelnem Play wird dort mit zeitlich begrenzten Lizenzen, das heißt auch hartem Cash, vorab gerechnet. Der Game-inspirierte Dienst setzt obendrein auf eine aktivere Einbindung der Nutzer:innen und will bewusst klein bleiben. Es bleibt zu hoffen, dass mehr solcher Initiativen für eine Diversifizierung des Streaming-Markts sorgen und dabei auf verschiedene Bezahlmodelle setzen, die den teilweise sehr unterschiedlichen Bedürfnissen verschiedener Musiker:innen entgegenkommen.

Eine größere Entwicklung schien in der zweiten Jahreshälfte eher langsam und fast unbeachtet ihren Anfang zu nehmen: Mit der Einführung von 'Tracks' sowie der Ankündigung, ab 1. Dezember die Anzahl von hochladbaren Mixen für alle Nutzer:innen des Gratisabos zu beschränken, um so einen Anstieg bezahlter Mitgliedschaften anzustoßen, schien sich Mixcloud für den Run auf den Streaming-Markt bereitzumachen. Das Unternehmen meldete kurzum ernsthafte Konkurrenz für SoundCloud an.

SoundCloud selbst hatte zwar im Juli mit einer – vom Unternehmen selbst mitverfassten – Studie untermauern wollen, dass das neue Tantiemensystem der "fan-powered royalties", auch als "user-centric" bekannt, den Musiker:innen auf der Plattform finanziell viel mehr einbringt als das beim Gros der Streaming-Giganten greifende "pro-rata"-Modell. Und verkündete doch nur wenige paar Tage später, sich von bis zu 20 Prozent der eigenen Belegschaft zu trennen

Es ist nicht das einzige und sogar eher eines der kleineren Unternehmen im Tech-Sektor, das hinter dem hochglänzenden Produkt eine wirtschaftliche Krise offenbaren musste. Apple und Disney stellen keine neue Mitarbeiter:innen mehr ein, Meta und Twitter entließen aus jeweils verschiedenen Gründen große Teile ihrer Belegschaften und auch Spotify setzte die Schere an und feuerte 38 Mitarbeiter:innen aus dem Podcast-Segment. Und wenn Spotify erst Milliarden Euros in Podcast-Technologie und Exklusiv-Deals buttert, dann jedoch im eigenen Haus spart – welche Perspektiven zeigt das erst für Musik auf der Plattform auf?

Die Problemchen großer Tech-Firmen mögen zuerst wenig mit Musik zu tun haben, ihre Eingeständnisse an wirtschaftlichen Krisen deutet aber im Gesamten darauf hin, dass sie zu kämpfen haben – eine Rezession zeichnet sich ab, wie David Turner in seinem Branchen-Newsletter Penny Fractions gegen Ende des Jahres erklärte. Wenn diese Rezession die Tech-Welt endgültig treffen wird, zieht sie auch denjenigen den Boden unter den Füßen weg, die sich bisher primär auf sie verlassen haben. Die Musikwelt ist von ihren Plattformen und Diensten abhängig. Gehen sie unter, ziehen sie die Industrie mit herab.

Marktkonsolidierung und mangelnde Solidarität

Zumindest in symbolischer Form erlebte die Musikwelt genau das, als am 2. März der Verkauf von Band an den Videospielriesen Epic Games bekannt gegeben wurde. Zwar hatte die Kritik an dem Unternehmen und insbesondere an den im Februar dieses Jahr wiederaufgenommenen Bandcamp Fridays zugenommen, doch galt die Plattform immer noch als verlässliche und integere Institution, die im Sinne der Szene agierte – und war seit Beginn der Pandemie immer alternativloser geworden

Nach der Übernahme durch Epic Games ist Bandcamp jedoch über Finanzkapital nunmehr mit Tencent, das heißt auch mit den drei Major-Labels und gleich in mehrfacher Hinsicht mit Spotify verbunden. Ironisch im Falle eines Unternehmens, das dereinst als, na ja, "anti-Spotify" gefeiert wurde. Ähnliche Konsolidierungseffekte ergaben sich auf anderen Ebenen bei der Übernahme der DGTL-Festival-Marke durch die ID&T-Gruppe, dem Zusammenschluss Soundwide, dem seit April unter anderem Native Instruments zugehörig ist, und dem Aufkauf von 49 Prozent der Anteile am Indie-Riesen PIAS durch den Major-Riesen Universal.

Bandcamp wurde 2022 von Epic Games aufgekauft.

Immer größere Unternehmen teilen sich also einen zunehmend instabilen Markt untereinander auf. Was soll schon schiefgehen? Und welche Perspektiven eröffnen sich angesichts dieser desolaten Lage erst für die kleineren Institutionen wie Vertriebe, Mailorder, Plattenläden ebenso wie natürlich Labels und die Artists selbst? Richtig: keine rosigen. Die Wertschöpfungskrise scheint im Jahr 2022 ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Nur hat es leider den Anschein, als handele es sich um einen vorläufigen. 

Politische Lösungsansätze wie die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens für Kulturschaffende wie in Irland Anfang des Jahres oder die vom VUT und anderen Verbänden geforderte strukturelle Förderung von unabhängigen Musikunternehmen sind spannend. Sie sollten genauestens verfolgt und in Einzelfällen auch unterstützt werden. Nur werden die Staatskassen wie gesagt wohl leider perspektivisch für den Kultursektor nicht mehr so viel hergeben wie noch während der Pandemie. Außerdem herrscht innerhalb der Szene eine – nicht ganz unberechtigte – Skepsis bezüglich Abhängigkeiten von Regierungsgeldern. Nur, welche Alternativen gibt es?

Trance, Trash, Nostalgie

Oder welche Perspektiven? Immer mehr Festivals und Clubs sowie diverse tragende Pfeiler der Szene könnten sukzessive einknicken. Die große Marktbereinigung, die viele während der ersten zwei Pandemiejahre befürchtet hatten, steht uns also schätzungsweise ab nächstem Jahr bevor. 

Bestimmt ließe sich da solidarisch und geschlossen gegensteuern: Die Berliner Clubcommission oder nach ihrem Vorbild aufgebauten Verbände, ob in Sachsen oder Salzburg, verdienen ebenso wie VUT und Co. mehr denn je die Unterstützung derer, die sie vertreten. Doch die Realität sieht nach den Wiedereröffnungen anders aus: Viele ausgefahrene Ellenbogen, Alle-gegen-alle-Mentalität. Und ein zügelloser Hedonismus, gegen den alles unter 150 BPM wie Ambient klingt.

Höher, schneller, doller: Der Dancefloor glich 2022 einem Dammbruch.

Es mag kein Zufall sein, dass angesichts all dessen Trance und Trash-Pop in diesem Jahr den Ton angaben. Das ist die andere Seite der Medaille, auf deren Rückseite eine Weltuntergangsstimmung eingraviert ist, die jede noch so unglaubwürdige Berghain-Ente zum Viralhit macht: Diese Musik liefert den perfekten Soundtrack dafür, sich in den Eskapismus hinein und also mit offenen Armen in den Untergang zu tanzen. 

Bitter schmeckt daran vor allem, dass die Pandemiezeit eben nicht wie gehofft die Ohren des Publikums für abenteuerlichere Klangentwürfe öffnete, sondern sich die Dance-Welt kollektiv in die Vergangenheit zu schmeißen scheint. Dass der Sound der Neunziger und Nullerjahre so dominant war, kommt einem kulturellen Statement gleich: Das Kommende, es interessiert uns nicht. We'll never stop living this way, jetzt, da wir wieder können.

Untermauert wurde das – wohl konsequenterweise – von einem überwältigenden Retro-Zirkus. Da öffnete doch tatsächlich ein Museum für elektronische Musik in Frankfurt, während selbst die Öffentlich-Rechtlichen eine monumentale Dokumentation zum Dagewesenen ablieferten. Da rekonstruierte der Tresor zum 31. Geburtstag in den verschiedensten Formaten die eigene Geschichte, während eine unfassbare Flut von Büchern Geschichten aus den frühen Rave-Tagen wiederkäuten. Und wie sehr sind wir eigentlich am Arsch, wenn tatsächlich jemand auf die Idee kommt, die Loveparade neu aufzulegen? Wenn die Vergangenheit zum Fetisch wird, was passiert dann mit der Zukunft? 

Veröffentlicht in Features und getaggt mit 2022 , Affenpocken , Annabel Ross , Aslice , Bandcamp , Beatport , Berghain , Clubcommission , Clubtopia , Dr. Motte , Epic Games , female:pressure , Gravity Network , Klimakrise , Kyiv , Larry Heard , Matter of Fact , Moog , Needle-Spiking , Nina Kraviz , Ostgut Ton , Pallas , Querdenker , Rave The Planet , Robb McDaniels , Robert Owens , Rückblick , Trance , Ukraine , Vinylkrise

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